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Obwohl Harry sich an diesem Abend Louis gegenüber so offen gegeben hatte, machte sich der Streetworker gegen 21 Uhr auf den Weg nach Hause. Er musste mal wieder in seinem eigenen Bett schlafen und da es Harry jetzt soweit gut ging, dass er nachts auch alleine sein konnte. Auch traute er ihm nicht mehr zu, dass er versuchen würde, die Einrichtung zu verlassen. Er hatte ihm mehr als einmal klar gemacht, dass das hier seine letzte Chance auf Reha war und er war sicher, dass der Junge es verstanden hatte.

Zwar war Harry nicht begeistert gewesen, als Louis ihm eröffnet hatte, dass er ab jetzt in der Nacht wieder in seiner Wohnung schlafen würde, doch es ging nicht anders. Er musste hier einfach mal raus, ansonsten würde er einen Lagerkoller bekommen, wenn er weiterhin den ganzen Tag dieselben vier Wände ansehen musste.

„Wenn was ist, dann kannst du mich doch anrufen." sagte Louis, nachdem er sich angezogen hatte und Harry im Flur stand und ihn mit traurigem Blick ansah. „Ich gebe dir meine Handynummer und du kannst mich immer anrufen. Wir haben in der WG Küche ein Telefon." Louis kritzelte seine Nummer auf einen Zettel und drückte ihn Harry in die Hand, während er ihm sanft über die Wange strich. „Schau mich nicht so traurig an, ich komme doch morgen wieder." flüsterte er, zog ihn in eine Umarmung und gab ihm einen zärtlichen, aber kurzen Kuss auf die Lippen, bevor er die WG verließ. „Schlaf gut, Lou...ich vermiss dich jetzt schon." hatte Harry leise gesagt, als er die Treppe ins Erdgeschoss hinunterging und ihm über das Geländer nochmals zugelächelt.

Obwohl sie einander ihre Zuneigung gestanden hatten, wusste Louis noch immer nicht wirklich, wie er sich verhalten sollte. Wenn er zu sehr auf Beziehungs-Kuschel Kurs ging, wusste er genau, dass er Harrys Therapie nicht entsprechend würde durchführen können. Auf der anderen Seite erschien es ihm unfair Harry gegenüber, wenn er sich reserviert verhielt und auf Abstand ging, denn er wollte ihn auf keinen Fall verletzen, schließlich hatte der Junge in den letzten Wochen und Monaten genug erlebt. Das Hin und Her war anstrengend, machte ihn müde und raubte ihm Energie, die er viel lieber in die Reha des Punks investiert hätte.

Wenn Louis aber ehrlich war, dann würde er am Liebsten den ganzen Tag mit dem Lockenkopf zusammen sein und mit ihm Hand in Hand durch London stromern, während der Punk gelöst und glücklich war. Beim Gedanken daran breitete sich ein Grinsen auf seinem Gesicht aus und er bemerkte erst jetzt, dass er mit der Bahn versehentlich eine Station zu weit gefahren war. Seufzend stieg er aus und ging zu Fuß zurück bis nach Hause.

Der Wind der durch die Straßen fegte, blies Louis entgegen, trieb einige Blätter vor sich her, die im Kreis um ihn herumwirbelten und dann im Straßenabfluss landeten. Der Herbst war definitiv in London eingezogen und Louis doppelt froh, dass er Harry zu sich geholt hatte, denn die kalte Jahreszeit würde er dieses Mal nicht im Freien erleben müssen.

Kaum war er in der Wohnung angekommen, fing es an zu regnen und dicke Tropfen prasselten gegen die Fensterscheibe der Küche und liefen in feinen Rinnsalen daran herunter. Toms Zimmertür stand offen und er konnte seinen Mitbewohner sehen, der auf dem Bett am PC Lag. „Hey Lou!" grüßte er und lächelte ihn an, doch dann sah er Louis Gesichtsausdruck und runzelte die Stirn: „Alles okay? Ist was passiert? Du siehst besorgt aus." fragte er und stand sofort auf um zu ihm in die Küche zu kommen, wo Louis sich gerade auf einen Stuhl hatte fallenlassen. „Wie geht's Harry? Du warst ja jetzt fast ne ganze Woche nicht hier." - „Ja, es geht ihm gut. Also besser meine ich. Er ist nicht krank geworden, wofür ich sehr dankbar bin und den Entzug hat er auch hinter sich. Zumindest den körperlichen Teil davon." Tom nahm sich ein Glas aus dem Schrank, füllte es mit Wasser und setzte sich ihm gegenüber:

„Das klingt alles ziemlich gut, wenn du mich fragst. Ich verstehe nicht ganz, wieso du dann so besorgt dreinschaust, wenn ich ehrlich bin." - „Wir haben uns geküsst." platzte Louis heraus, stand auf und raufte sich die Haare. Die ganze innere Zerrissenheit, die er verspürte musste jetzt raus und da Tom ihm gerade so bereitwillig zuhörte, bot es sich gerade an, einfach alles rauszulassen. „Wow, das ist toll...oder nicht?" Tom wandte sich auf seinem Stuhl um und sah ihm nach, wie er in der Küche auf und ab ging. Er wusste selbst nicht so recht, wieso es gerade so aus ihm herausgeplatzt war, aber er musste seine innere Unsicherheit jetzt einfach mal loswerden, auch wenn Tom ihm da vielleicht keinen Rat geben konnte, aber sicherlich half es einfach schon, wenn er sich anhörte, was Louis zu sagen hatte.

„Nein. Also ich meine: ja, es war toll und ich bin ganz glücklich damit, aber ich glaube, ich kann Harry nicht gerecht therapieren, wenn ich Gefühle für ihn habe. Wie soll ich ihn neutral behandeln, wenn ich jedes mal Herzklopfen bekomme, wenn ich ihn sehe?" Louis blieb stehe, lehnte sich an die Arbeitsplatte an und seufzte tief. „Ich hab Angst, dass ich es versaue und Harry meinetwegen nicht clean wird, weil ich meine Arbeit nicht richtig mache. Und das will ich nicht verantworten...verstehst du, wieso ich so durcheinander bin?" Tom sah ihn an und nickte langsam. „Ja, ich kann es total nachvollziehen, aber wieso hast du denn dann überhaupt zugelassen, dass ihr euch geküsst habt?" - „Ja, weil ich es wollte!" rief Louis und warf die Arme in die Luft. „Ich wollte diesen Jungen küssen, er ist einfach bezaubernd und ich konnte mich nicht mehr zurückhalten." gestand er und wusste genau, dass diese Aussage nun nicht gerade zur Klärung des Problems beitrug. Auch Tom schien das bemerkt zu haben, denn er hob die Augenbrauen, nahm einen Schluck Wasser und sagte: „Dir ist schon klar, dass sich das gerade alles widerspricht..." Louis nickte matt und ließ sich an der Front eines Küchenschränkchens herunterrutschen, wo er dann die Knie an die Brust zog und die Stirn darauf legte um unterdrückt zu fluchen. „Wie wäre es denn, wenn du Harry an einen anderen Betreuer abgibst? Er wird das sicherlich verstehen, wenn du ihm die Sachlage erklärst, oder?" schlug Tom vor, der nun offenbar auf der Suche nach einer Lösung war. Sein Vorschlag war wirklich gut gemeint, aber Louis wusste genau, dass Harry eher wieder abhauen würde, als einen anderen Betreuer zu akzeptieren. Außerdem war Louis selbst sich ja auch sicher, dass diese Aktion Harrys Ruin bedeuten würde. „Lou?" frage Tom leise und setzte sich neben ihn auf den Holzboden, um mit ihm auf Augenhöhe zu sein. „Louis, auch wenn es jetzt anscheinend keine passende Lösung gibt – wenn du schon nach einer Woche bemerkst, dass das alles in die falsche Richtung geht, dann musst du zu Harrys Wohl gegensteuern, auch wenn es euch Beiden nicht gefällt. Wenn du Harry genauso wichtig bist, wie er dir, dann wir das funktionieren. Aber je länger du dich nicht entscheidest, desto schwerer wird es, ihn davon zu überzeugen." Louis schloss bei diesen Worten die Augen. Tom hatte recht und das gestand er sich nur äußerst ungern ein.

Er musste Harry abgeben, soviel stand fest, es war zum Wohl des Punks und vielleicht kam ja der neue Kollege als Betreuer infrage, der in einigen Tagen im Hilfswerk anfing.

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