Das Wetter wurde nicht besser. Im Gegenteil. Eine neue Kältewelle erreichte Großbritannien und auf allen Kanälen wurde davor gewarnt. Tatsächlich hatte Louis, als er am nächsten Morgen aus seiner Wohnung trat, erst einmal das Gefühl, schockgefrostet zu werden und drehte noch einmal um, um sich eine Mütze mitzunehmen. Der Schnee, der in der Nacht gefallen war, lag als festgetretene Schicht auf den Bürgersteigen und das durch Streusalz entstandene Wasser, war wieder festgefroren, sodass es eine einzige Rutschpartie bis zur U-Bahn war.
Nachdem er noch einen kurzen Fußmarsch von der Station Camden Town bis zur Hampsted Road zurückgelegt hatte, zitterte immer noch, obwohl er sich in der Bahn eigentlich ganz gut aufgewärmt hatte.
„Morgen!" trällerte Katie ihm fröhlich entgegen, als er seine Tasche neben seinem Schreibtisch im Büro abstellte und sah ihn erwartungsvoll an. „Ist was?" fragte Louis irritiert und zog sich die dicke Jacke aus. „Jaaah – du hast diesen Harry wieder getroffen." sagte sie und sah ihn auffordernd an, in der Hoffnung, er würde ein wenig mehr davon erzählen. „Ja, hab ich." - „Und?" hakte sie nach und klopfte ungeduldig mit den Fingern auf ihren Schreibtisch. Sie sah ganz aufgeregt aus.
„Wir waren nach der Schicht noch Frühstücken und ich hab dann bei ihm geschlafen." - „Bei oder mit ihm?" fragte sie grinsend und fing an, laut zu lachen, als er rot anlief und sich dadurch verriet. „Und was ist jetzt mit euch? Seid ihr zusammen?" Oh man, sie war ja schlimmer als die Klatschpresse und Louis verdrehte die Augen. „Ich weiß nicht...also er hat mir gesagt, dass er nicht vergeben ist und dass er mich liebt. Und naja er hatte noch nie...also ich war sein erstes Mal, als wir morgens dann..." Er brach ab. So viel sollte sie nun auch nicht wissen. „Also daher glaube ich schon, dass wir zusammen sind." schloss er rasch. Katie hielt inne und nickte dann anerkennend, bevor sie sagte: „Also, dieser Mann muss ja unglaublich in dich verliebt sein. Ich meine: er hat die ganze Zeit auf dich gewartet, das ist ja sowas von romantisch." verzückt klimperte sie mit den Wimpern und ließ sich auf ihren Stuhl fallen, als hätte sie vor lauter Rührung keine Kraft mehr, um stehen zu bleiben. Amüsiert sah Louis sie an und grinste in sich hinein.
Katie benahm sich ja gerade so, als hätte es in ihrer Lieblingsseifenoper gerade eine überraschende Wendung gegeben, die sie sich immer erträumt hatte und Louis' Liebesleben war diese Seifenoper.
Bevor Katie ihn noch mehr ausquetschen konnte, kam ihm Tony zu Hilfe, der den Kopf durch die Tür streckte: „Guten Morgen, kommt ihr bitte mal in die Teeküche?
Sonderbesprechung." sagte er und verschwand wieder. „Das ist bestimmt wegen der Kälte." vermutete Katie und sie verließen zusammen ihr Büro.
Die Teeküche war ein kleiner Raum, in dem sich ein wackliger Tisch, sowie ein Wasserkocher und eine Mikrowelle befanden. Nicht gerade viel und nicht gerade geräumig, doch für die sechs Mitarbeiter reichte es aus. Peter, Juliana und David waren schon da, als Tony, Louis und Katie eintraten. „Morgen allerseits." begrüßte sie Peter, der in dieser Dienststelle die Leitung hatte und forderte sie auf, sich zu setzen. Er selbst blieb stehen. „Wie ihr sicherlich alle schon gehört und bemerkt habt, ist es noch kälter geworden. Ich habe heute Morgen schon einen Anruf aus der Zentrale bekommen, die ganzen Obdachlosenheime werden heute recht schnell voll sein und können keine weiteren Leute aufnehmen. Wir haben die Anweisung, hier so viele Schlafplätze herzurichten, wie wir aufbringen können, damit die Menschen heute und vielleicht auch in den nächsten Nächten bei uns Zuflucht suchen können." sagte Peter und allgemeines Nicken bestätigte seine Worte. Bei den Nachrichten heute Morgen hatte eigentlich jeder der Anwesenden damit gerechnet. „Das heißt, wir müssen heute dafür sorgen, dass die Schlafplätze organisiert und ausgestattet werden. Vielleicht können wir in dem großen Beratungszimmer auch noch Leute unterbringen, dann müssten wir so auf etwa 30 Schlafplätze kommen, wenn wir auch noch Matten im Flur auslegen." Tony hob die Hand: „Schieben wir dann alle Nachtschicht? Wäre vielleicht besser, damit wir alle im Blick halten können." Peter nickte zustimmend. „Ja, das wird das Beste sein. Oder wir machen zwei Gruppen, die sich überschneiden, dann machen drei die Tagschicht und drei die Nachtschicht. Die erste Nachtschicht wird halt ein bisschen happig, weil wir heute auf jeden Fall alle da sein müssen, um alles aufzubauen, aber ihr könnt ja hier ein bisschen schlafen." Das klang nach einem guten Plan, wenn es auch sicherlich anstrengend werden würde. David schrieb einen Schichtplan, während sich die Kollegen daran machten, den Besprechungsraum auszuräumen, indem sie die Tische aufeinander stapelten, die Stühle in einer Ecke verfrachteten um so viel Platz wie möglich zu schaffen. Zusammen mit Tony rollte Louis Isomatten in den Fluren aus und legte überall eine Decke dazu, wodurch es schnell wie in einem Zeltlager aussah und sie ständig über Matten steigen mussten.
Sie waren den ganzen Vormittag beschäftigt, da sie nebenbei ja noch den normalen Alltag der Beratung bewältigen mussten und als sich alle zum Mittagessen wieder trafen, waren sie schon ziemlich müde. Juliana hatte ihnen etwas beim Chinesen bestellt und sie saßen alle beisammen, als David das Wort erhob: „Ich weiß, wir haben jetzt Pause, aber ich habe den Schichtplan gemacht. Louis, Tony und Katie: ihr hättet die erste Nachtschicht, ist das in Ordnung?" fragte er und sah die Drei an. „Wenn ich mich nachher mal für ein-zwei Stunden hinlegen kann, kein Ding." brummte Tony und biss von einer Frühlingsrolle ab.
Es war eine organisatorische Meisterleistung, die sie an diesem Tag absolvierten, denn als es Abend wurde hatte es sogar noch Jemand geschafft, Tee auf Vorrat zu kochen und eine Lieferung Lebensmittel aufzutreiben, die von den hiesigen Supermärkten gespendet worden waren. Und das obwohl man teilweise nicht wissen konnte, wo einem der Kopf stand.
Louis hatte sich am frühen Abend, als es ruhiger geworden war, in einen Raum zurückgezogen und ein wenig gedöst, um für die Nachtschicht fit genug zu sein, doch richtig schlafen war nicht möglich gewesen – ganz im Gegensatz zu Tony und Katie, die in seiner Nähe lagen und schliefen. Harry bekam er einfach nicht aus seinem Kopf. Ob er heute auch Sonderschichten machen musste, wegen der Kälte? Er friemelte sein Handy aus der Hosentasche und überlegte, ob er Harry schreiben sollte. Eigentlich war nichts dabei, aber er hatte ein wenig Angst, dass er seinen Freund erdrückte, wenn er ihn jetzt mit SMS belästigte. Womöglich würde Harry sich dann eingeengt fühlen und Louis war sich nicht sicher, ob er das wollte. Schließlich war der Lockenkopf so lange allein und auf sich gestellt gewesen, hatte auf Niemanden Rücksicht nehmen müssen und sollte nicht das Gefühl bekommen, Louis über jeden seiner Schritte Rechenschaft ablegen zu müssen.
Am besten wäre es wohl, wenn er ihn einfach beim nächsten Mal persönlich fragte, dann war er auf der sicheren Seite. Louis schob das Handy zurück in die Tasche, als die Tür des Raumes aufging und Jemand das Licht anknipste. „Hey, wir wollen hier pennen..." grummelte Tony, der aufgewacht war und setzte sich empört hin. „Oh, entschuldigt, aber wir wussten nicht, dass der Raum besetzt ist." sagte der Mann, der das Licht eingeschaltet hatte und betrat den Raum: „Man sagte uns aber, dass wir hier unsere Sachen ablegen können." Louis, vom hellen Licht geblendet, blinzelte zu dem Mann hin und sah, dass er eine Rot-Kreuz Uniform trug. „Harry, komm hier rein!" rief er über die Schulter und Sekunden später tauchte Harry hinter dem Mann auf. Er trug wieder den Erste-Hilfe Rucksack auf der Schulter und hatte noch einen Zweiten in der Hand. „Kann das hier rein?" fragte er seinen Kollegen, sah Louis und grinste breit: „Hey Louis." Weil er ihn hier nicht erwartet hatte, starrte Louis ihn einen Moment ein wenig perplex an, strahlte dann aber: „Hey, was machst du denn hier?" er stand auf und ging zu Harry hinüber, der seine Sachen ablud und in eine Ecke stellte.
„Wir wurden von der Zentrale hergeschickt. Wenn ein Nachtlager errichtet wird ist es gesetzlich verpflichtend, ärztliche Nothilfe zu garantieren und dafür sind wir da." sagte der Kollege an Harrys Stelle und Louis nickte. „Alles klar. Ich bin Louis, wer sind Sie?" - „Warren." sagte der Mann freundlich und sie gaben sich die Hände. „Meinen jungen Kollegen Harry, kennen Sie ja schon." - „Ja, allerdings." sagte Louis leise und erwiderte Harrys verschmitztes Grinsen. „Ich bin Tony, freut mich sehr." stellte sich nun auch der dunkelhaarige Kollege vor und schüttelte den beiden Sanitätern ebenfalls die Hand. „Und ich bin Katie. Hey Harry." sagte Louis Kollegin, gab Warren nur kurz die Hand und strahlte Harry dann an, als sei er der Weihnachtsmann persönlich. Sie schüttelte seine Hand recht lange und schien ihn dabei regelrecht abzuscannen. „Katie, lass gut sein." flüsterte Louis ihr rasch ins Ohr, da Harry sie zwar freundlich anstrahlte, aber doch ein wenig verwirrt dreinsah.
„Gut, wir lassen euch dann mal in Ruhe aufbauen." sagte Tony und bedeutete seinen Kollegen, den Raum zu verlassen. „Wow, er ist sowas von süß." seufzte Katie, als sie außer Hörweite waren. „Hey, er gehört zu mir." protestierte Louis grinsend, doch sie knuffte ihn nur in die Seite und sagte: „Weiß ich doch. Aber er ist trotzdem total niedlich. Und wie er dich angesehen hat. Ich wünschte, mein Freund würde mich mal so anschauen."
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Way Out
FanfictionLondon - Touristenmagnet und schillernde Metropole. Aber auch Heimat von Hoffnung und Hilflosigkeit. Louis arbeitet als Streetworker und hat es sich zur Aufgabe gemacht, Jugendlichen, die auf der Straße leben, eine neue Perspektive zu bieten. Harr...