Als Thorin das strahlende Grün der Natur aus dem Fenster betrachtete, weit in die Ferne stierte, suchend und fragend, war es, als würde der König die Welt zum ersten Mal erblicken. Noch immer hallte der vergangene Augenblick nach; war dieser tief in seinem Geist verankert. Vernahm Thorin Bilbos letzte Worte, ihre letzte Berührung und schließlich, ihren Abschied. Nun huschte sein Blick von links nach rechts, als würde der Zwerg seine Gestalt ausfindig machen können. Bilbo war schon lange fort. Nur ein paar Tage. Wohin er wohl gegangen war?
Da kamen dem König ganz furchtbare Gedanken in den Sinn. Was, wenn Bilbo unerwarteten Gefahren begegnete? Thorin musste an die Geschehnisse ihrer Anreise denken, all die Male, in denen sie nur knapp davongekommen waren. Die Weiten Mittelerdes waren in keinem Falle zu unterschätzen. Bilbo war doch hoffentlich nicht allein unterwegs. Zum Beispiel diesen verrückten Zauberer, Gandalf, hatte Thorin seit einiger Zeit nicht mehr erblickt. Was der wohl im Schilde führte? Ach, Bilbo wusste bestimmt, was er tat. Er war gewissenhaft, mutig und er konnte kämpfen; das hatte er jetzt schon oft unter Beweis gestellt. Obwohl, immerhin war er ja auch so verrückt gewesen, sein Leben ...
Da hielt der König inne.
»Jetzt beruhig dich endlich!«, riefen Thorins Gedanken. »Hör auf mit den Albernheiten!« Es waren schließlich nur ein paar Tage, und er selbst hatte immerhin ebenso eine wichtige Aufgabe zu erfüllen. Nur darauf kam es an. Er war König, er ...
Da fiel Thorins Blick auf das rote, lederne Buch, welches unverändert auf dem steinernen Tisch lag. Kälte durchzog seine Finger wie Nadelstiche, ein Klumpen lag in seinem Hals. Bilbo war fort. Gewissenhaft strichen Thorins Hände über den Einband. Sie öffneten mit winzigen Bewegungen die erste Seite, auf welcher in feinen Schriftzügen sein Bilbos Name ohne Titel stand. Bilbo hatte Thorin erlaubt, darin zu lesen, er hatte ihn sogar darum gebeten. Nun war es ein Schatz, wertvoller als jeder Edelstein, jedes noch so große Stück Gold in der großen Halle. Da wurde es Thorin mit einem Mal klar:
Er hatte es wirklich getan, er hatte seine Vernunft gebrochen. Dem Halbling gesagt, was er nicht einmal in seinen Gedanken je ausformuliert hatte. Sich nicht eingestanden hatte. Und schließlich, als sie sich so nahe gewesen waren ... Da presste Thorin die linke Hand zusammen, ehe ihn das Krampfen seiner Brust übermannen konnte.
»Nur ein paar Tage«, wiederholte er. »Es sind lediglich ein paar närrische Tage.« Bilbo würde wohlbehalten eintreffen und dann, wenn sich ihre Blicke endlich wieder trafen ...
Thorin presste das Buch an seinen Körper, warf noch einen Blick zurück und verließ den Raum – den fernen Ausblick – mit langgezogenen Schritten. Dabei schritt er den weitläufigen Gang nicht nur entlang; es war ihm, als würde er schweben. Als würde die feste Masse des steinernen Untergrundes verschwimmen und an Materie verlieren. Die gesamte äußere Welt erschien durchsichtiger. So vergaß der König beinahe, den richtigen Pfad zu nehmen und entsann sich seines Ziels nur halbherzig.
Nach weiteren hundert Metern erklangen blechern die Stimmen seiner Freunde, der Gemeinschaft Thorin Eichenschilds. Sie hatten sich alle hier versammelt und beäugten ihn ehrenwerten, doch ernsten Blickes. Da erstrahlte ein wahrhaftiges, offenes Lächeln auf dem Gesicht des Anführers. Stirnrunzeln war ihre Antwort, ehe sie sich wenige Sekunden später ebenso einer freudigen Reaktion bemühten; ihre Verwunderung überspielten.
»Meine Freunde«, begann Thorins helle Stimme. »Danke für die Zusammenkunft. Ich freue mich, dass ihr hier seid. Es ist ein ordentlicher, ein erhabener Tag, findet ihr nicht?« Ori trat aus der Reihe hinaus, begleitet von einer runzelnden Miene.
»Bilbo ist schon fort, nicht wahr?« Da hielt der König inne und schluckte schwer.
»Ja, das ist er.« Seine Stimme stockte.
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A Second Chance | Bagginshield
FanfictionBilbo ist gemeinsam mit Frodo nach Valinor gereist, wo er seinen Ruhestand genießt oder es zumindest versucht. Als eines Tages schließlich eine Elbin auftaucht und ihm die Chance gibt, zurück in die Vergangenheit zu reisen und sein Schicksal zu verä...