Flussabwärts

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Vor langer Zeit

Bilbo lag allein in seinem Bett, lauschte, wie die Vögel ihren Gesang preisgaben, und sah, wie sich am Horizont der Himmel erneut rötlich verfärbte.

Ihm war kalt, obwohl der Sommer sich klar mit seinen herrlichen Früchten zeigte und seit der Reise bereits ein Jahr verstrichen war. Ab und zu klopfte es an der Tür des Hobbits. Er stellte sich dann immer vor, wie einer der Zwerge auftauchte und ihn bat, mit ihm zum Erebor zu kommen. Auch wenn er dort nichts weiter als Erinnerungen finden würde, so war es dennoch ein Zuhause in einer Gemeinschaft, einer Familie.

Das Auenland war klein und friedlich, das komplette Gegenteil von dem Abenteuer, und manchmal stand doch tatsächlich ein Nachbar vor der Tür, der den Hobbit nervte und den Bilbo kurzerhand abwimmelte. Ihm war es lieber, allein zu sein, als seinen Nachbarn zuhören zu müssen, wie anstrengend es doch mit den Kindern war oder wie schnell sie wuchsen.

Die meisten seiner Bekannten hatten eine Frau, Familie und waren selbst Eltern. Sie alle waren im Dorf geblieben. Wie selten gab es einen Hobbit, der seine Heimat verließ. Bilbo Beutlin konnte sich in seiner kleinen Höhle nicht mehr so recht daheim fühlen, ganz gleich, wie oft er es sich eingeredet hatte; er wusste, dass er nicht mehr derselbe war.

Eines Nachts vernahm Bilbo also ein leises Knacken, das laut genug war, um ihn aus seinem leichten Schlaf zu wecken.

»Ha, was war das? Wer ist da?«, rief der Hobbit. Da stapften doch Füße über das warme Holz. Der Hobbit strich sich über die schweißgebadete Stirn, nahm eine schmale Kerze an sich, zündete sie an und setzte sich auf den Bettrand.

Plötzlich nahm er einen Schatten wahr. Bilbo blinzelte viermal mit den Augen. Dann war da ein langes, rotes Gewand und schließlich schwarze, leuchtende Haare sowie schimmernde Augen. Bilbos Herz blieb stehen. Das konnte doch nicht ... ach du meine Güte!

»Das ist nicht möglich! Du bist, du bist doch ...« Bilbo rieb sich über die feuchten Augen.

»Ich träume nur, du bist nicht da!« Bilbo senkte den Blick und hoffte, dass er auf diese Weise wieder zu sich finden würde. Doch die Gestalt des einen trat nur näher.

»Bilbo«, flüsterte die tiefe Stimme des einen sanft. »Lebst du dein Leben, wie ich es dir gesagt hatte?« Der Hobbit nickte, mit beiden Händen vor den Augen. Dann schüttelte er den Kopf.

Er stotterte: »Thorin! Natürlich ... es vergeht nicht ein Tag, an dem ich deine Worte nicht in meinem Kopf wiederhole. Ich habe den Baum gepflanzt. Ich habe mein Versprechen eingelöst. Ich lese Bücher.« Der Zwerg ließ sich neben ihm nieder, doch es ging keine Wärme von ihm aus.

Thorins Geist flüsterte: »Du brauchst nicht zu weinen. Du bist in Sicherheit, zu Hause, wo du hingehörst.« Bilbo traute sich endlich, seinen Blick vollständig zu erheben, Thorin in die tiefen, doch durchsichtigen Augen zu schauen.

»Du bist wirklich ... Sag mir, bist du wirklich?« Thorin nickte.

»Versteh bitte, ich gehöre hier nicht hin. Ich schätze, das Abenteuer hat mich mehr verändert, als ich es für möglich gehalten habe.« Der Zwerg nickte.

»Wem sagst du das?«, erwiderte der Zwerg und blickte auf die Hand des anderen. Das Licht einer überirdischen Welt hatte ihn verändert. Es hatte ihn die Wahrheit erkennen lassen.

Bilbo schluckte und hoffte inständig, dass Thorin nicht verschwinden würde. Dann stammelte er:

»Bitte Thorin, ich weiß, dass das nur ein Traum ist. Doch ich sehe dich. Immer wenn die Nacht hereinbricht, wenn ich die Augen schließe und an jedem weiteren Tag. Ich muss immer an den Tag denken, an dem ...«

A Second Chance | Bagginshield Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt