Die Vision

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Mit lautlosem Keuchen erklomm Thorin die letzte der Treppenstufen, ehe er sich mit zitternden Knien in das Dunkel seines Raumes stahl. Das schimmernde Mondlicht schwamm durch das kreisrunde Fenster, bis auf den Nachttisch. Noch immer verweilte dort das Buch, gefüllt mit nichts als Worten des einen.

Da wandelten sich die Wolken. Heulender und schreiender Wind stieß unachtsam gegen das Fenster. Schwere Regentropfen hämmerten dagegen wie Steine, als wären sie Eindringlinge.

Wo er wohl sein möchte? Und ob ihm das Wetter zu schaffen machte?

Als Thorins schwerer Körper sich dennoch endlich – nach einem ganzen Tag gefüllt mit nichts als Worten – ausruhte, strichen seine Finger automatisch über den ledernen Einband.

Ein stechender Schmerz erfüllte Thorins Lunge, doch er stammte dieses Mal von keinem Kampf. Da gab er seiner Neugierde endlich nach und drückte das Buch fest an sich, ehe er es mit feinen Bewegungen betrachtete und den Einband mit winzigen Handgriffen öffnete.

Jede Seite war mit Sorgfalt beschrieben worden. Bilbos schwungvolle Schrift füllte die Seiten komplett aus. Als Thorin zu lesen begann, hörte er die Wiederholung von Bilbos Stimme, wie sie jedes einzelne Wort betonte und ihn zurückführte in die nicht allzu ferne Vergangenheit.

Von ihrem Aufbruch in Beutelsend, ihrer Flucht vor den Orks, Bilbos furchtbarer Krankheit, ihrer Reise durch den Düsterwald und der Fahrt nach Esgaroth. Immer wieder brachte der Hobbit zum Ausdruck, was ihm all dies bedeutete, und jedes Wort, welches er über Thorin schrieb, war voller Wertschätzung, die den Schmerz in der Brust des Zwerges für den Moment befreite.

Die ersten Seiten kannte Thorin allesamt bereits, doch als er das letzte bekannte Blatt umgeblättert hatte, wandelte sich die Struktur. Plötzlich endete der Schriftzug und einzelne gelbe Blätter tauchten zwischen den Buchseiten auf, welche ein beträchtliches Alter besitzen mussten.

Zögerlich griff Thorin nach dem ersten umgedrehten Rechteck, ehe er die verblassten Buchstaben erspähte, welche beim zweiten Hinschauen immer klarer wurden. An der oberen rechten Ecke stand ein Datum geschrieben:

Hobbingen, 2943

Ungläubig blickte er auf, bis an die hohe, von Schatten verzerrte Decke. Bedacht griff er auch nach den anderen Blättern. Sie alle waren Schriften aus einem buchstäblich anderen Leben. Briefe. Allesamt gekennzeichnet von seiner* Unterschrift. Mit klopfendem Herzen und einer unbändigen Neugierde nahm Thorin den ersten hervor, strich sanft über das raue Papier und begann schließlich zu lesen:

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Zwei Jahre. Heute vor zwei Jahren erblickte ich den Erebor zum letzten Mal, die Gesichter meiner Freunde. Seit meine verehrten Nachbarn meine Möbel endlich herausgerückt haben, ist die Höhle wieder heimeliger geworden, doch obwohl alles wieder seinen rechten Platz gefunden hat, scheint es, als wäre nichts mehr dort, wo es einst gewesen ist.
Ich träume von den Bergen, den Bäumen und den Sternen. Nie vergesse ich den Ausblick über die Weiten Mittelerdes, den Anblick des verlassenen Berges. Zwei Jahre, und doch erinnere ich mich noch genau an seine Gewaltigkeit, die unendlich hohen Decken und das leuchtende Gold. Und doch kann ich nicht zurückschauen, nicht verweilen, denn das hieße sich zu erinnern, sich zu erinnern an alles, was ich zu gerne vergessen würde.
»Nun, der muss wirklich verrückt geworden sein«, sagte doch letztens diese verflixte Lobelia-Sackheim Beutlin und mit ihr ein jeder in ganz Hobbingen. Vielleicht fange ich deswegen zu schreiben an, weil ich genau das bin. Denn auch wenn ich weiß, dass unsere Begegnung reine Einbildung sein muss und ich offenbar verrückt geworden bin, hegt ein Teil von mir die absurde Hoffnung, dass du sie sehen kannst, meine Worte. Damit du weißt, was du mir bedeutest. Damit ich endlich aussprechen kann, was ich nie auszusprechen wagte. Alles geht tagein, tagaus, während ich dem Baum beim Wachsen zusehe und mich erinnere. Mich erinnere an uns.

A Second Chance | Bagginshield Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt