Keine Angst

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»Nein, ich bin mir ganz sicher, dass er der perfekte Meisterdieb ist! Und ja, ich weiß, aber das können wir auch regeln.« War das etwa Gandalfs Stimme?

Bilbo war noch immer völlig weggetreten. Sein Kopf fühlte sich leer an, der Magen war flau. Übelkeit zerrte an dem zu Bewusstsein kommenden Hobbit. Da, langsam kamen die Erinnerungen zurück; die Erkenntnis, wo er sich befand. Ebenso wurde Bilbo die Tatsache bewusst, dass er gerade den Lauf der Geschichte gewaltig verändert hatte. Dabei hatte er das doch unbedingt vermeiden wollen.

Als er schließlich beide Augen geöffnet hatte, lag der Halbling wieder in seinem Bett und vernahm etwas entfernter das Gespräch von Gandalf und den Zwergen. Wärme durchströmte die Adern. Er war völlig ausgelaugt.

»Du kannst mir nicht erzählen, dass ein Hobbit als Meisterdieb geeignet ist, der bei jeder Kleinigkeit sofort in Ohnmacht fällt!«, vernahm er Thorins tiefe Stimme.

Kleinigkeit, natürlich.

Über die Hälfte seines Lebens hatte Bilbo damit verbracht, an Thorin zu denken, hatte nie wirklichen Frieden schließen können, wenngleich er es mit aller Kraft versucht hatte. Thorins Schicksal hatte auf seinen Schultern gelegen wie ein Felsen, hatte wie ein Loch in seinem Herzen geklafft. Nun war dies der erste Satz, welchen der Hobbit vernahm. Da fiel es ihm wie Schuppen von den Augen - Bilbo hatte vergessen, welche Einstellung Thorin am Anfang zu ihm gehabt hatte, dass er alles andere als begeistert von dem sogenannten Meisterdieb gewesen war. Als der König zum ersten Mal mit seinen eisblauen Augen vor ihm gestanden hatte, hatte er ihn einen Krämer genannt. Bilbo presste die Zähne zusammen.

Doch da hatte es den einen Moment gegeben, in dem sich alles verändert hatte: Es war zu jenem Zeitpunkt gewesen, als Bilbo dem garstigen Ork Azog an die Kehle gesprungen war, noch bevor der Ork Thorin den Kopf hatte abschlagen können. Pure Überraschung hatte das Herz des Hobbits getroffen, als Thorin ihm eine herzliche Umarmung geschenkt hatte. So viel besser hatte sie sich angefühlt als in allen Vorstellungen.

Doch ein paar Monate später erst, als er ihn bei der Schlacht der fünf Heere hatte retten wollen, war der Hobbit leider zu spät gekommen. Nie hatte Bilbo zu Wort kommen können, hatte er Thorin sagen können, wie viel er ihm wirklich bedeutete. Und noch viel weniger hatte er ihm ein schönes Leben im Erebor ermöglichen können, ihm den Thron schenken können, der immer nur für ihn bestimmt gewesen war. Ein guter König wäre er geworden, wenn da nicht diese hinterlistige Drachenkrankheit gewesen wäre, die ihn in den Wahnsinn getrieben hatte ... Denn Bilbo wusste, dass Thorin ein gutes Herz besaß. Auch wenn der Zwerg nur allzu gut darin war, es zu verstecken ...

Bei den alten Bildern waren Bilbo beinahe die Tränen gekommen; wäre ihm nicht eingefallen, dass Thorin doch genau nebenan saß, zusammen mit all den anderen Zwergen. Der Hobbit konnte es noch immer nicht fassen. Also gut. Er würde jetzt hineingehen und sagen, was zu sagen war, ganz ohne die Fassung zu verlieren. Schließlich war er mutig und hatte schon vieles überstanden; da war das doch ein Kinderspiel!

Mit einem Satz berührten Bilbos Füße den festen Boden - den Blick hatte er stur geradeaus gerichtet. Aufrechten Ganges durchquerte er den röhrenförmigen Flur. Wilde Diskussionen wurden veranstaltet. Bilbo vernahm Spekulationen, ob der vermeintliche Meisterdieb wohl noch wach werden würde an diesem Abend. Gandalf bemerkte ihn vor allen anderen. Mit einem Schmunzeln begutachtete er den Hobbit.

»Hab ich es nicht gesagt?«, warf Gandalf mit Stolz in die Runde. »Euer Meisterdieb, wie versprochen!«

Bilbo konzentrierte sich auf seinen Atem. »Du schaffst das!«, sprach er sich innerlich zu. Da blickte er auf. Noch einmal wagte er den Versuch, Thorin in die Augen zu schauen. Der saphirblaue Ton zog Bilbo so sehr in die Tiefe, dass er Mühe hatte, sich davon zu lösen. Es befand sich Leben darin, Thorin war direkt vor ihm, er ... lebte. Der Hobbit schüttelte den Kopf - er musste sich auf das Wesentliche konzentrieren.

A Second Chance | Bagginshield Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt