Versprechen

52 2 2
                                    

Bilbo erschauderte. Er atmete so scharf ein, dass ihm schwindelig wurde. Zweimal schlug er mit den Augen auf und fuhr sich durch die wirren Haare. »Das kann nicht sein«, dachte er. »Das kann nicht sein. Das ist doch ... ein Traum. Ein Traum. Nichts als ein ...«

Die langen, funkelnden, rabenschwarzen Haare, der dunkle, edle Mantel und die eisblauen, wunderschönen Augen, welche einen augenblicklich in den Bann zogen. Der Halbling konnte nicht anders als zu zittern.

»Hallo ... Bilbo«, sprach Thorin mit heiserer Stimme. Die Augen des Zwerges glänzten. Die Gesichtszüge des Halblings wurden weich. Noch ehe dieser ein Wort zustande bringen konnte, leuchteten seine braunen, warmen Augen vor Feuchtigkeit.

»Thorin«, wisperte er. »Thorin, du ...« Bilbos Stimme erstarb wie sein Verstand, »... du lebst.«

Bei diesen Worten fiel der bestimmte Gesichtsausdruck des einen in sich zusammen. Auch die Augen des Königs waren nun erfüllt von Tränen, die er nicht vergoss. Vorsichtig fragte Thorin: »Darf ich hineinkommen?«

Lautlos nickte Bilbo. Fuhr sich durchs gekräuselte Haar. Strich über sein gelbes Hemd. Lächelte schief. Wurde ernst. Sie mieden ihre Blicke.

»Lass uns ins Wohnzimmer gehen«, schlug Bilbo belegt vor und folgte dem König mit klopfendem Herzen auf Zehenspitzen.

Als Thorin sich gesetzt hatte, bildete sein Mund eine gerade Linie. Sie waren in einem wunderbaren, doch bitteren Traum, den niemand so recht verstand. Da traf der Blick des Zwerges jenen des Hobbits.

»Bilbo«, versuchte Thorin sich zu erklären. Dem Hobbit wurde ganz warm, als er seinen Namen aus dem Mund des einen hörte. »Ich weiß nicht, wo ich beginnen soll. Ich ... Ich habe dich ... vermisst«, gestand er schwach. Seine Stimme taumelte. »Es tut mir alles so leid. Nun sitze ich hier und du, du hast ganz vergessen ... und ich habe mein Versprechen nicht gehalten.«

Thorin blickte auf den staubigen Boden. All seinen Mut brachte der Halbling auf. Fixierte die Augen des Zwerges. Verlor sich darin.

»Ich ... Ich habe dich auch vermisst.« Bilbos Mundwinkel wanderten in die Höhe. »Ich dachte, du seist ... es ist so viel geschehen.«

»Das ist es.« Thorin seufzte. »Sehr viel mehr, als du dir vorzustellen vermagst.«

Die Stille zwischen ihnen sprach Worte aus, die Bilbo nicht hören konnte. Hinter einem tiefen Nebelschleier steckten sie. Bilbos Lippen stammelten: »Es ist unglaublich, dass du ... du ... du ... du lebst. Du ... bist wirklich hier.«

Nun konnte es Bilbo nicht mehr verbergen. Tränen füllten seine Augen, zwei flossen beide Wangen hinab. Thorins helle Stimme bat: »Verzeih. Bitte verzeih mir, dass du all das durchmachen musstest - dass ich dich im Stich gelassen habe.«

Fragend schüttelte Bilbo den Kopf. »Das hast du doch nicht. Ich war derjenige. Ich hätte dich retten sollen. Da sein sollen, als es ... geschah.«

Ein beruhigendes Lächeln zeichnete Thorins Mund. »Das warst du.« Dann fixierte er wieder den Boden. »Du kannst dich an nichts erinnern? An keinen Augenblick?«

Abermals bewegte sich Bilbos Kopf nach links und rechts. »Wovon sprichst du?« Seine Tränen trockneten langsam.

»Hast du das Buch erhalten?«, fragte Thorin.

Das Buch. »Ja, ich habe es gelesen. Jedes einzelne Wort«, bestätigte der Hobbit. Schwer senkte der Zwerg den Kopf und faltete beide Arme ineinander. Thorin hatte gehofft, dass es Bilbo helfen würde, seine Erinnerungen zurückzuerlangen. Der Versuch war erfolglos geblieben.

»Thorin«, flüsterte Bilbo bestimmt, aber sanft. »Was geht hier vor sich? Was ist geschehen, an das ich mich erinnern sollte?«

Thorin seufzte tief. Blickte in Bilbos unschuldig anmutende Augen. Drehte den Kopf nach rechts. Beäugte die Regale aus warmem Holz, den Kaminsims, in welchem ein Feuer loderte, und den Esstisch, an welchem er selbst einst gesessen hatte. Dann biss er die Zähne fest zusammen und brachte es endlich heraus: »Die Geschichte der Welt, wie du sie kennst, existiert nicht mehr. Sie ist verändert worden. Von dir.«

A Second Chance | Bagginshield Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt