Ein Schatten in der Nacht

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Es war ein warmer Tag in Valinor. Dies war der Ort, an dem Bilbo kaum von Schmerzen geplagt war. Denn der Hobbit war alt und gebrechlich - und auch wenn er wusste, dass er sich in den Unsterblichen Landen befand, war ihm klar, dass er diese Welt früher oder später verlassen würde. Das Verrückte war, dass es dem alten Hobbit nicht viel ausmachte. Vieles hatte er erlebt und war nur noch müde und erschöpft von den schier ewigen Jahren seines Lebens.

Ja, der Schmerz hatte ihn all die Jahre verfolgt. Oft fragte er sich, wie sein Leben verlaufen wäre, hätte sich das Blatt an einem entscheidenden Punkt gewendet - an dem entscheidenden Punkt ...

»Oh Bilbo, ist es hier nicht schön? Ich meine, nach all den Abenteuern und dem vielen Stress?«, vernahm er Frodos Stimme. Bilbo lächelte leicht, sich selbst fragend, wieso er sich dennoch nicht wirklich glücklich fühlte. Dabei wurde alles getan, um ihm eine letzte Ehre zu erweisen.

Frodo legte sich neben ihn in den Sand. Sich so zu bewegen, das war Bilbo schon lange nicht mehr möglich. Schließlich war er nicht mehr so jung – Zerknitterte Haut zierte seinen Körper und Falten lagen auf seinem Gesicht. Graue, dünne Haare wehten im seichten Wind des scheinbaren Paradieses. Manchmal vermisste er sein junges Ich - das junge Ich, das einst mutig mit dreizehn Zwergen zum Erebor aufgebrochen war. Das junge Ich, das nicht gezögert hatte zu handeln, wo und wie es nötig gewesen war, und jede Gefahr überlebt hatte. Jede einzelne Gefahr überlebt hatte, so ganz anders als ...

»Versuch dich zu entspannen«, machte Frodo den Versuch, ihn zu beruhigen. Der Neffe konnte die Stimmung seines Onkels jedes Mal erraten. Bilbo mochte Frodo wirklich. Auch er hatte sich leider Gefahren und Ängsten stellen müssen, die sich keiner vorstellen wollte. Die Ehre, die ihnen beiden zuteilwurde, als Ringträger nach Valinor zu reisen, war so viel mehr, als sich ein gewöhnlicher Hobbit je erträumen konnte. Die unsterblichen Lande waren das reinste Paradies und perfekt für den Ruhestand des 131-jährigen, einstigen Abenteurers – mit den weißen Stränden, den ewig gesunden Pflanzen und einer Heiligkeit, die jedes Fünkchen Erde und Wasser belebte.

»Ach Frodo, ich bin alt und bedauerlicherweise nicht mehr so jung und fit wie du«, sprach der außergewöhnlich alte Hobbit zu seinem Neffen. In Gedanken versunken starrte er auf den weiten Horizont.

»Ja, das stimmt«, meinte Frodo. »Und ich verstehe es. Aber ist das nicht noch ein Grund mehr, das Leben noch zu genießen? Diesen Ausblick zu genießen? Sieh nur, die Brandung!« Sein Onkel blickte auf. Das blaue, reine Wasser rollte sich wild in den Sand. Ja, das war es in der Tat, aber nein, Bilbo wollte davon nichts wissen. Denn er war nichts als ein verbitterter, alter Hobbit, der sein Leben tapfer gelebt hatte. Doch seit dieser einen Reise war alles anders. Wann auch immer seine Gedanken darauf zurückfielen, schien sein Herz zu verkrampfen. Wegen ihm, den einen, den er ...

Vor einigen Jahren hatte Bilbo alles aufgeschrieben. »Hin und zurück« hatte er die Geschichte genannt. Frodo hatte das Buch gelesen und das mehr als einmal. Jedes Mal vertiefte er sich regelrecht in dem Abenteuer und litt am Ende mit, wenn einige der Zwerge von ihnen gingen; wenn das Ende sie auffraß, verschlang und kurz darauf wieder ausspuckte. Bilbo las selbst nicht mehr in dem Buch, denn jedes Mal kamen ihm die Tränen.

»Du, Onkel Bilbo – dein Buch – darf ich es nochmal lesen?« Sein Neffe schien die Gedanken des Hobbits wieder erraten zu haben. Wenig fröhlicher nickte Bilbo.

»Natürlich, mein lieber Frodo!«, brachte Bilbo die Worte zitternd hervor. Auch wenn die Atmosphäre des Landes weitgehend guttat und der alte Hobbit seine körperlichen Schmerzen meist nicht mehr spürte, so löschte diese den Schmerz des Herzens doch nicht vollkommen - ganz gleich, wie sehr er es auch versuchte. Sein ganzes Leben hatte Bilbo mit diesem Schmerz gehadert. Sein ganzes, langes Leben ...

A Second Chance | Bagginshield Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt