Der Mut eines Hobbits

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»Thorin!« Balins Stimme war bereits aus Metern Entfernung hörbar. Der Weißbärtige kam mit großen Schritten, voller Freude und Erleichterung auf seinen König zu. »Ich kann es nicht glauben. Wir dachten, du seist ...«

»Vielen Dank, Balin«, unterbrach Thorin den anderen. Es war unerträglich für ihn, mehr Worte zu wechseln als nötig. Viel mehr sehnte der König sich nach der Sicherheit seines Raumes, nach der Ruhe, die ihm nun lange Zeit verwehrt bleiben würde. Er durfte nicht vergessen, dass in den Hallen des Erebors ein ganzes Volk auf seine Anwesenheit wartete. Auf seine Worte, seinen Rat. Der Gedanke daran bereitete Thorin Magenschmerzen.

Er presste beide Hände zusammen und schritt langsam auf den runden Eingang zu. Balins Blick senkte sich, genau wie seine Stimmung.

Womit hatte er gerechnet? Thorin hatte seine Trauer nicht überwunden, innerhalb der wenigen Tage, die er fort gewesen war. Und wie lange sie bleiben würde, war ebenso ungewiss.

»Wenn ich dir helfen kann, ich bin hier, Thorin.« Ein leichtes Nicken war die Antwort. Schließlich traten sie gemeinsam auf das große, steinerne Tor zu, bis der König es mit seinen Händen berührte. Es war offensichtlich, dass er den Moment so lange wie möglich hinauszögern wollte.

»Du solltest dich erst einmal ausruhen«, sprach Balin sorgenvoll. »Die Reise hat dich bestimmt viel Kraft gekostet. Morgen ist auch noch ein Tag. Die anderen müssen noch nichts von deiner Anwesenheit erfahren.« Mit einem bemühten Lächeln öffnete der König das Tor, wo ihm das warme Licht der vielen Fackeln bereits entgegenkam.

»Ewigkeiten haben wir gewartet. Und nun sind wir endlich dort, wo wir immer hinwollten, erinnerst du dich?« Der Weißbärtige nickte. »All unsere Pläne, all unsere Arbeit, die Gefahren, die wir überstanden haben ... Für unser Volk, unsere Familien ...« Langsame, knirschende Schritte folgten.

»Aber warum nur gelingt es mir nicht, Erleichterung, Freude darüber zu empfinden?« Mit zitternden Händen tastete Thorin sich an der kalten Wand entlang. Es war, als wäre seine gesamte Realität nicht mehr dieselbe, wie noch vor wenigen Tagen. Bilbos Tod hatte alles verändert. Der Arkenstein hatte alles verändert.

»Die Trauer, Thorin. Auch ich habe einst Ähnliches empfunden.« Der Zwergenkönig schluckte, atmete hörbar tief ein und nahm die sich eisig anfühlende Luft in seine Lunge auf. Obwohl die Luft des Berges doch immer frisch und wohltuend war, hatte er das Gefühl, nicht richtig atmen zu können. Als schnürte ihm jemand die Kehle zu.

»Er ist noch immer hier«, gingen Thorin die Worte der Elbin durch den Kopf. Doch wie konnte Bilbo es sein, wenn er ihn doch nicht sah, nicht mit ihm reden konnte? Thorin konnte seine Selbstvorwürfe nicht aufhalten, noch war er in der Lage dazu, sein Wort zu halten und sein Volk zu begrüßen.

Taub und leer taumelte er voran und erklomm die steinernen Treppenstufen, die ihm seine letzten Kräfte raubten. Die Bilder in seinem Kopf wurden zu einem Schleier, welcher sich Stück für Stück über die Wahrnehmung legte.

Besorgt folgte ihm Balin. Dabei verfolgte ihn der Gedanke an den leblosen Körper des Hobbits, der nicht beerdigt worden war. Eine Vermutung, die sich ihm aufdrängte, die er jedoch gleich wieder verwarf. Eine Viertelstunde des ratlosen Schweigens dauerte es, ehe sie ihr Ziel beinahe erreicht hatten.

»Wo warst du überhaupt?«, traute sich Balin endlich, die wichtigste aller Fragen zu stellen. Sein König schwieg nur und nahm kraftlos die letzte Treppenstufe.

»Ich erinnere mich an Zeiten, in denen du uns alles anvertraut hast. An Zeiten, in denen du keine Geheimnisse vor uns hegtest.« Thorins Blick trübte sich und in seinem Kopf wirbelte die Welt herum. Die Worte seines Gegenübers wurden blechern und leise. So leise, dass er für einen Moment glaubte, das Bewusstsein zu verlieren. Und das Schlimmste daran war, dass es ihm noch nicht einmal etwas ausmachte.

A Second Chance | Bagginshield Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt