Vergessene Jahre

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Als Henning früh am Morgen wieder erwachte, fühlte er sich als hätte er gar nicht geschlafen. Sein Körper fühlte sich schwer an und die Schmerzen waren nun allgegenwärtig und kaum noch zu ignorieren. Dazu kamen die Gefühle, die seine Erinnerungen in ihm ausgelöst hatte. Schuld, Trauer und Verzweiflung nagten an ihm. Eine Bewegung neben ihm ließ ihn aufmerken.

„Guten Morgen."

Flüsterte eine merklich müde Stimme neben ihm. Die unbekannte Frau war noch immer bei ihm. Sein schlechtes Gewissen meldete sich wieder. Er wusste nicht einmal wie sie hieß und sie verbrachte die ganze Nacht bei ihm, vermutlich auf einem unbequemen Krankenhausstuhl.
Er tastete nach ihrer Hand und drückte diese kurz, um ihr ebenfalls einen guten Morgen zu wünschen. Schliesslich brachte er immer noch keinen Ton heraus und da er nichts sehen konnte war auch Schreiben keine Option um zu kommunizieren. Es war zum verrückt werden.
Jemand betrat das Zimmer und eine Krankenschwester begrüßte sie beide. Mit seiner Besucherin sprachen die Pfleger und Schwestern merklich vertraut, fast als würden sie die Frau schon lange kennen. Er vermutete das sie ebenfalls im Krankenhaus arbeitete, ansonsten war das äußerst freundliche Verhalten der Krankenhausmitarbeiter kaum zu erklären. Gerne würde er die Frau nach ihrem Namen fragen, den diesen hatte sie ihm noch nicht genannt. Vermutlich weil er ihn doch eigentlich wissen müsste. Sie mussten schließlich eine enge Beziehung zueinander haben, ansonsten würde sie nicht so viel Zeit bei ihm verbringen.

„Henning?"

Fragte die Frau und schreckte ihn damit aus seinen Gedanken. Schnell wandte er sein Gesicht in die Richtung aus der die Stimme kam und nickte, um ihr zu signalisieren das er zuhörte. Bewegungen seines Kopfes verursachten zwar ziemliche Kopfschmerzen, doch da er kaum anders kommunizieren konnte, wusste er sich nicht anders zu helfen.

„Ich müsste jetzt los, da ich nachher Spätschicht habe. Kann ich dich alleine lassen?"

Schnell zeigte er den Daumen hoch. Er wollte nicht das sie ging, aber das war ein absolut egoistischer Wunsch. Sie hatte immerhin ein eigenes Leben und einen anstrengenden Schichtberuf noch dazu. Wahrscheinlich arbeitete sie hier im Krankenhaus auf einer anderen Station. Ob er sie hier kennengelernt hatte? Immerhin war er wegen Kalles Tod in therapeutischer Behandlung, er konnte sich nicht mehr erinnern ob diese ambulant oder stationär erfolgt war.

„Okay. Wenn etwas ist, dann sag den Schwestern Bescheid. Die haben meine Nummer und rufen mich an. Vielleicht schaffe ich es auch während der Schicht kurz vorbei zu kommen, wenn wir hier einen Patienten abliefern."

Wieder zeigte Henning den Daumen hoch. Gerne hätte er sich dafür bedankt, das sie so viel Zeit bei ihm verbracht hatte. Hoffentlich würde er das in wenigen Tagen nachholen können.
Sanft strich die Frau über seinen Arm und verließ sein Zimmer dann. Nun fühlte er sich ziemlich alleine und die Tatsache das er nicht einmal sehen konnte was um ihn herum geschah, ließ ihn in einem ziemlich verspannten Zustand zurück.
Wenn sie Patienten hier im Krankenhaus ablieferte, war sie vermutlich nicht als Krankenschwester beschäftigt. Versuchte er sich mit Gedanken an die Frau abzulenken, die in den letzten Tage über ihn gewacht hatte. Vielleicht war sie Notärztin oder Sanitäterin im Rettungsdienst? Das würde ihre Aussage auf jeden Fall erklären. Woher diese freundliche Frau mit der sanften Stimme wohl kannte? Er hatte kein Gesicht im Sinn, wusste nichtmal mehr ihren Namen. Trotzdem löste alleine ihre Stimme ein Kribbeln in ihm aus und er fühlte sich deutlich besser wenn sie bei ihm war. Nun wo er alleine war und nur über sie nachdachte, fragte er sich immer mehr wer sie war und in welcher Beziehung sie genau zueinander standen. Waren sie nur befreundet und sie war aus Mitleid bei ihm im Krankenhaus geblieben? Oder waren sie in einer Beziehung, wohnten vielleicht sogar zusammen? Bisher hatte er immer ziemlich Pech bei der Wahl seiner Partnerinnen gehabt, daher konnte er kaum glauben das diese offensichtlich ziemlich sympathische Frau mit ihm zusammen sein konnte. Nein wahrscheinlicher war das sie eine Bekannte oder Freundin war. Irgendwie bekam er dadurch noch mehr ein schlechtes Gewissen, weil er ihre Zeit in Anspruch genommen hatte. Natürlich war sie freiwillig geblieben, aber da er wusste wie wenig Freizeit man mit einem Beruf im Schichtdienst eigentlich hatte, fühlte es sich schlecht an das er sie nicht nach Hause geschickt hatte. Vermutlich wartete ein Mann und Kinder auf sie und es war absolut zu viel verlangt gewesen, das sie die Nacht bei ihm am Krankenbett wachte.
Die Tür seines Zimmers wurde geöffnet und unterbrach Hennings Gedankengänge.

Schicksalhafte BegegnungWo Geschichten leben. Entdecke jetzt