VI - Vinja (4/8)

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Frydag kam und ging. Je näher er gekommen war, desto nervöser war Vinja geworden. Ohne zu wissen, was sie erwartete, hoffte sie insgeheim, etwas würde passieren. Aber es passierte nichts. Sie verbrachte den Tag im Haus und damit, sich Gedanken über Helgrin zu machen. Wie lange sie wohl am Platz der Sonne auf sie wartete? Was sie von Vinja denken mochte? Nach vielem Hin und Her war Vinja überzeugt, dass Helgrin davon ausgehen würde, die letzte gemeinsame Übung und der Schnitt in den Hals hätten sie verschreckt. Ob Helgrin sie gesucht hatte? Sicher nicht.

Je mehr sie nachdachte, desto düsterer wurden ihre Gedanken. Wieso überhaupt hatte Helgrin ihr geholfen? Sie ging alle Begegnungen durch, von der ersten bis zur letzten und suchte nach Anhaltspunkten, aber sie wurde nicht schlau daraus. Was hatte Helgrin in ihr gesehen? Wenn Vinja sich recht erinnerte, hatte sie sie schon bei ihrer ersten Begegnung so seltsam angeschaut. Und wieso hatte sie Geld auf sie gesetzt? War das nur ein Vorwand gewesen, um mit ihr ins Gespräch zu kommen? Jede Frage führte zu einer neuen und Vinja fand keine Antworten. Schließlich gab sie es auf und versuchte sich damit abzulenken, auf dem Dachboden des Hauses Kisten zu durchstöbern.

Sie waren voller alter Bücher mit seltsamen Zeichnungen, von großen gezackten Rädern, die ineinandergriffen, Kesseln und Rohren. Vinja blätterte sie nur achtlos durch, ohne zu verstehen, was dort abgebildet war, oder sich ernsthaft damit zu beschäftigen. Nach einer Weile war Rigund heraufgekommen.

»Was machst du hier?«, hatte sie unfreundlich gefragt.

Um eine Auseinandersetzung zu vermeiden, war Vinja einfach wieder hinuntergegangen. Seit ihre geheimen Treffen mit Helgrin aufgeflogen waren, beobachteten ihre Eltern sie auf Schritt und Tritt und fragten ständig, was sie mit diesem oder jenem beabsichtigte. Vinja ging es furchtbar auf die Nerven, doch sie sagte nichts dazu. Es schien ihr das Beste zu sein, zu tun, was ihre Eltern wollten und zu hoffen, dass sie sie irgendwann wieder in Ruhe lassen würden, denn alles war besser, als es derzeit war. Sie ließen sie nicht aus dem Haus gehen, nicht einmal für Einkäufe. Sie durfte den Tag über nicht in den Verkaufsraum und sie bekam niemanden zu Gesicht, außer ihren Eltern. Dafür schuftete sie im Hinterzimmer, reinigte Wannen und Töpfe, fegte in aller Frühe das ganze Haus und räumte die Küche auf. An manchen Tagen dachte Vinja, sie würde verrückt werden, wenn sich nicht bald etwas änderte. Doch sie hielt durch und dachte an einen fernen Tag, an welchem sie auf die eine oder andere Weise den häuslichen Käfig, den ihre Eltern um sie aufgebaut hatten, wieder verlassen konnte.

Dieser Tag ließ auf sich warten, auch als der Frydag schon lange vorbei war und Vinja überlegte, ob wohl bald der nächste kommen würde.

Doch, auch wenn es lange dauerte, der Tag kam. Anscheinend hatte sie genug Buße getan und ihre Eltern überzeugen können, dass sie keine weiteren Unternehmungen vorhatte, die ihnen in irgendeiner Weise schaden konnten. Es war Belfonso, der Vinja eines Abends zu sich rief.

»Wir haben überlegt, dass du wieder im Verkaufsraum arbeiten kannst«, sagte er zu ihr und klang dabei, als würde er ihr ein Geschenk ankündigen.

Vinja ärgerte das, aber noch mehr ärgerte sie, dass sie sich tatsächlich darüber freute. Sie hatte es satt, immer weggeschickt zu werden, wenn jemand hereinkam und ihr fehlte es an Gesprächen mit jemand anderem als Rigund und Belfonso, die ohnehin kaum etwas anderes zu ihr sagten, als was sie für Aufgaben zu erledigen hatte.

»Morgen geht es los. Rigund wird dir helfen.«

Das wiederum missfiel Vinja sehr. Selbstverständlich war Rigund nicht dabei, um ihr zu helfen, sondern um sie zu überwachen. Der Käfig wurde nicht geöffnet, nur die Gitterstäbe etwas weiter auseinandergesteckt. Ansonsten blieb alles, wie es war. Trotz allem war Vinja beinahe aufgeregt, als sie am nächsten Morgen hinunter in den Verkaufsraum ging. Rigund wartete bereits auf sie und warf ihr einen kritischen Blick zu.

»Was hast du denn an?«, fragte sie Vinja ungehalten. »Die Sachen sind dir ja viel zu klein!«

Vinja betrachtete verlegen ihre Ärmel. Es stimmte, aber sie konnte daran nichts ändern. Tatsächlich war sie in den letzten Wochen gewachsen und nun passten ihre Sachen halt nicht mehr, dafür konnte sie nichts.

»Zieh dir was anderes an!«

»Alle Sachen sind so«, antwortete Vinja. Wie hatte es Rigund vorher übersehen können? Aber was wunderte sich Vinja, Rigund interessierte sich nur insoweit für sie, wie sie sie schikanieren oder herumscheuchen konnte.

Rigund biss sich auf die Unterlippe.

»Warte hier. Wenn jemand kommt, dann rufst du mich!«, sagte sie streng und lief die Treppe hinauf in den Wohnbereich. »Belfonso!«

Es dauerte eine ganze Weile, bis sie wieder herunterkam. »Du kannst so hier nicht herumlaufen«, sagte Rigund in ihrem üblichen missgelaunten Tonfall, wenn auch eine Spur freundlicher als sonst, was Vinja sofort auffiel. Sie spürte, wie sie sich innerlich anspannte. Schon erwartete sie irgendeine Gemeinheit, aber vorerst blieb sie aus. Stattdessen übergab Rigund ihr ein Säckchen mit Münzen.

»Geh zu Hiljo und lass dir neue Sachen machen, Hemd und Hose und so.«

Vinja traute ihren Ohren kaum. Hiljo war ein Tuchmacher im Lichterviertel. Sie kannte ihn von einigen Einkäufen, die sie für die Wäscherei gemacht hatte. Hatte Rigund gerade wirklich gesagt, sie solle sich neue Kleidung machen lassen? Und noch dazu alleine vor die Tür gehen? Verwundert schaute sie ihre Mutter an und das Gefühl des Misstrauens wuchs.

»Du gehst nur zu Hiljo und machst keinen Umweg!«, sagte Rigund, ganz so, als wolle sie das Gefühl der Verwunderung in Vinja zum Schweigen bringen, »Wenn du irgendwo anders hingehst, oder irgendetwas anderes machst als das, kannst du was erleben!« Sie ging zur Tür, öffnete sie und wies hinaus. »Und beeile dich!«

Vinja, die immer noch mit dem Säckchen voll Münzen in der Hand da stand, kam in Bewegung. Sie verstaute das Geld in einer Tasche, lief hinaus und die Straße hinunter. Fast genussvoll sog sie die Luft ein. Sie war wieder unterwegs, endlich. Es ärgerte sie, dass Hiljos Laden so nahe lag. Wenn sie sich beeilte, wie Rigund es ihr aufgetragen hatte, dann wäre sie schon bald zurück. Andererseits, wenn sie alles so machte, wie ihre Eltern es erwarteten, vielleicht würden sie ihr dann mehr Freiheiten zugestehen. Vielleicht könnte sie sich sogar wieder mit Helgrin... doch sie verwarf den Gedanken, bevor sie ihn überhaupt zu Ende gedacht hatte. Ihr Hochgefühl flaute ab. So weit würde es sicher nicht gehen. Immerhin, versuchte sie sich selbst aufzumuntern, sie war wieder vor die Tür gekommen. Als sie ihre Aufmerksamkeit wieder ihrer Umgebung zuwandte, beschlich sie mit einem Mal das Gefühl, dass einige der Passanten, die sie traf, sie unfreundlich anschauten, oder ihr sogar feindselige Blicke zuwarfen. Lag es an ihrer Kleidung? Vielleicht ihrem Haar, ihrem Aussehen? Sie war in letzter Zeit so wenig vor die Tür gekommen, dass sie nachlässig geworden war und auf ihr Äußeres nicht mehr geachtet hatte. Sah sie schäbig aus für die Leute? Sie war froh, als sie Hiljos Laden erreicht hatte. Ein Gefühl, das schon kurz nachdem sie den Laden betreten hatte, wieder verflog.

Der Untergang Ijarias I - Die Schatten erheben sichWo Geschichten leben. Entdecke jetzt