I - Vinja (1/3)

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Die Sonne war gerade erst aufgegangen, aber schon jetzt war sie warm und kündigte von der kommenden Mittagshitze. Besonders heiß wurde es in der südlichen Ebene. Hier wuchs fast nichts außer dürrem Gras und vereinzelten, knotigen Bäumen. Das einzige Zeichen menschlicher Existenz in dieser Gegend waren die zahlreichen Wege, die sich quer durch die Ödnis zogen und alle auf eine einzige, breite und ausgetretene Straße zuführten, die wie ein langes und schnurgerades Band von Süden nach Norden verlief.

Über diese Straßen bewegte sich langsam und behäbig eine Reihe von Menschen, die Tiere, Vieh und Wägen mit sich führten. Seit der Morgen vorüber war, brannte ihnen die Sonne im Nacken.

Nicht nur die Hitze machte sie langsam. Viele von ihnen führten ihre gesamten Habseligkeiten mit sich. Auf den Wagen stapelten sich Koffer, Taschen, Truhen und Säcke.

Die meisten Männer und Frauen schwiegen. Nur ein pausbäckiger Mann bildete eine Ausnahme. Er lief in einer kleinen Gruppe neben einem Karren, der noch voller beladen war als die anderen. Neben den Koffern und Truhen stapelten sich Gerätschaften, Kessel und Rohre.

Dem Mann lief der Schweiß den Nacken hinunter, wo er einen dunklen Fleck auf seinem Hemd hinterließ. Trotz allem schien ihm die Hitze nichts anzuhaben. Während seine Begleiter schweigend neben ihm her liefen, redete er ohne Unterlass.

Die zwei Frauen und der Mann neben ihm hörten ihm zu. Im Gegensatz zu ihm hatte jeder von ihnen noch ein Bündel aus Habseligkeiten auf dem Rücken und sie schnauften unter der schweren Last.

»Der obere Westmarkt ist etwas kleiner als der untere Westmarkt, soviel ist sicher«, erläuterte der pausbäckige Mann. »Aber das Verrückte ist«, er machte eine Pause und warf seinen Begleitern einen Blick aus leuchtenden Augen zu, »das Verrückte ist, dass es überhaupt einen oberen und unteren Westmarkt gibt! Und nicht nur das, es gibt auch zwei Ostmärkte und je einen Nord- und Südmarkt. Vom zentralen Markt ganz zu schweigen, könnt ihr euch das vorstellen? Jeder einzelne Markt ist größer als alle Märkte, die ihr je in eurem Leben gesehen habt, und der Zentralmarkt gleicht einer eigenen kleinen Stadt!«

»Das glaube ich dir einfach nicht!«, sagte eine der Frauen. Sie war dick und hatte von den dreien das größte Bündel zu tragen. Trotz allem lief sie nahezu aufrecht. »Ein Markt so groß wie eine Stadt! Wie welche Stadt möchte ich mal wissen. Vielleicht meinst du ja Himstadt?«

Die anderen lachten.

»Nein, nein, nicht wie Himstadt«, antwortete der pausbäckige Mann verärgert. »Ich meine eher wie Dalmerstedt.«

Die Frau schnaubte.

»Wie Dalmerstedt? Das glaube ich erst, wenn ich es gesehen habe.«

»Nun, das wirst du ja bald«, antwortete der Mann, »aber mach dich auf etwas gefasst! Ich sage dir eins ...«. Er machte eine Pause, um Luft zu holen.

»Wer Ijaria noch nicht gesehen hat, der hat noch gar keine Stadt gesehen!«

Den letzten Satz sagte er nicht alleine. Vom hinteren Teil des Wagens wurden die Worte von einer leisen Stimme aufgegriffen und mitgesprochen. Über das Geratter des Wagens war sie kaum zu hören und sie klang viel weniger begeistert als die Stimme des pausbäckigen Mannes. Viel eher klang sie missmutig, schlecht gelaunt und sie gehörte einem Mädchen, das auf der hinteren Ladefläche des Karrens saß. Jetzt sprang sie ab und ließ den Wagen ein Stück vorfahren, bis die Gruppe vor dem Karren außer Hörweite war. Dann reihte sie sich ein in den Tross aus Wagen und Leuten.

Das Mädchen war klein. Tatsächlich war sie schon 16 Jahre alt, aber die meisten, die sie anschauten, hielten sie für jünger. Sie hatte auffällig wache und konzentrierte Augen, die jetzt unter zusammengezogenen Brauen dem Karren hinterherschauten. Ihr Haar war lang und braun und fiel ihr lose über die Schultern.

Der Untergang Ijarias I - Die Schatten erheben sichWo Geschichten leben. Entdecke jetzt