IX - Elno (5/5)

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Elno wusste nicht genau, was es war. Erst war es nur ein Gefühl, unbestimmt und schwer zu greifen. Erst dachte er, es wäre das Wetter, aber das war es nicht. Sein Herzschlag, der sich angesichts ihres nahenden Erfolges beruhigt hatte, beschleunigte sich wieder. Um sie herum tobte immer noch der Sturm und nervös warf er einen Blick nach rechts und links. Sehen konnte er nichts, außer Regen und Dunkelheit und hier und da den Umriss eines Gebäudes, aber er konnte etwas fühlen.

Etwas bewegte sich durch den Sturm.

Angst stieg in Elno auf. Kalte, tödliche Angst. Es war nicht die Angst davor, erwischt zu werden, nicht die Angst vor Konsequenzen ihres Diebstahls, der ihm mit einem Mal klein und unbedeutend vorkam. Durch den Sturm bewegte sich etwas und mit diesem Etwas kam tödliche Angst. Er klammerte sich fester an Finiel und verbarg sein Gesicht in ihrem Mantel, doch es half nichts. Das Gefühl wurde stärker und deutlicher, schien sich durch den Sturm direkt auf sie zuzubewegen und gleichzeitig legte sich eine eisige Klammer um sein Herz. Und sein Herz raste. Er wollte Luft holen, aber er hatte den Eindruck, schwarze, verpestete Luft einzuatmen. Wir werden sterben, dachte er panisch. Ein Schrei stieg in ihm auf und bald darauf brach er aus, zerteilte Sturm und Regen mit einem hohen, lang gezogenen Ton, wie der schrille Schrei eines Vogels, der dem Tod ins Auge blickt.

Finiel zuckte zusammen und Briesene schien in der Luft nach unten zu sacken.

»Wir sind gleich da!«, brüllte Finiel über den Sturm zu ihm. Elno klammerte sich an sie, so fest er konnte. Wieder legte sie eine Hand auf seinen Arm, doch dieses Mal brachte die Geste keinen Trost, sondern wirkte hilflos angesichts drohender Gefahr.

Dann zog am Rande seines Bewusstseins ein Schatten auf, dunkel und böse. Das Brausen des Sturms trat einen Moment zurück und ihm war, als sähe er für einen Moment ganz klar. Der Schatten berührte ihn und ein Gefühl, als stieße ihm jemand eine kalte Klinge ins Herz, raubte ihm jeden klaren Gedanken. Ihm wurde schwindelig. Dann zog der Schatten über ihn hinweg. Wieder stieß er einen Schrei aus, doch er war hilflos und gequält wie der eines Babys, das sich in größter Not nicht zu helfen wusste. Auf den ersten Schatten folgte ein zweiter. Und noch einer.

Als der dritte Schatten über ihn hinweggezogen war, wurden seine Gedanken wieder klarer. Die eisige Klammer löste sich wieder und er spürte wieder Wind und Regen auf seinem Gesicht, der mit einem Mal viel weniger schlimm wirkte. Auch der Wind rauschte nicht mehr so stark in seinen Ohren und er spürte, wie sie wieder Richtung Boden flogen.

Kurz darauf setzte Briesene ihre Füße auf den Boden.

»Lass los!«

Das war Finiel und ihre Stimme holte ihn endgültig in die Gegenwart zurück. Sie griff mit beiden Händen nach seinem Arm, den er immer noch um sie geschlungen hatte. Erst jetzt spürte Elno, dass alle Muskeln im Arm bis aufs äußerste angespannt und verkrampft waren und sich seine Finger tief in den Stoff von Finiels Kleidung gruben, als wolle er sie durchbohren.

Erschrocken löste er den Griff und gleichzeitig den des anderen Arms, in welchem er immer noch die Schwerter an sich presste. Scheppernd fielen sie hinunter auf den regennassen Boden. Finiel schwang sich vom Drachen, hob sie schnell auf und verbarg sie unter dem Mantel.

»Mensch Elno, was ist los mit dir?«

Sie redete immer noch laut, doch Elno hatte es sich nicht eingebildet, der Sturm verlor an Intensität und er konnte sie besser sehen und verstehen als zuvor.

Ungläubig starrte er sie an. Hatte sie nichts bemerkt? Ihr Gesicht wirkte aufgebracht und angespannt, aber nichts, von dem was in Elno vor sich ging, spiegelte sich darin wider.

»Komm runter vom Drachen!«

Finiel warf nervöse Blicke über den kleinen Platz vor der Seitentür. Langsam kletterte Elno von Briesenes Rücken. Briesene schien darüber erfreut zu sein und wartete nicht lange damit, sich wieder in die Luft zu schwingen. Finiel warf Elno einen kritischen Blick zu.

»Was ist los?«, fragte sie erneut. Ihre Stimme klang irritiert und verärgert.

»Ich weiß nicht«, antwortete Elno matt. Seine Beine fühlten sich schwach an und sein Herz raste immer noch. Er machte ein paar Schritte Richtung Tür. Finiel hatte nichts bemerkt, das war ihm klar geworden. Wie seltsam sein Verhalten auf sie wirken musste. Nun schämte er sich vor ihr, obwohl er wusste, dass das unangebracht war.

Finiel musste seine inneren Qualen erahnen, denn der Ausdruck in ihrem Gesicht wurde etwas milder.

»Na komm schon, wir müssen rein«, sagte sie. Umständlich machte sie sich an dem Lappen zu schaffen, den sie zwischen Tür und Rahmen geklemmt hatte. Elno stand wie versteinert daneben. Der Schrecken des Fluges saß ihm noch in den Gliedern. Was war es gewesen, was da im Sturm über sie hinweggeflogen war? Allein beim Gedanken daran überlief ihn erneut ein Schauer. Vor ihm stieß Finiel die Tür auf und blockierte sie mit ihrem Fuß.

»Komm rein«, sagte sie zu ihm, doch dann ging ihr Blick an ihm vorbei. »Na, das ist jetzt reichlich spät!«

Zögernd drehte Elno sich um und sah, dass Miro durch den nachlassenden Regen auf ihn zusteuerte. Er landete kurz vor Elno und machte ein paar Schritte auf ihn zu. Er wirkte erschöpft und sein Gang war nicht grob und ungeschickt wie sonst, sondern müde und schwerfällig. Kurz vor Elno blieb er stehen und hob seinen Kopf, sodass er Elno direkt in die Augen schaute. Anders als sonst war sein Blick fokussiert und aufmerksam und er hatte eine beruhigende Wirkung auf Elno. Elno berührte Miros nasses Fell und strich vorsichtig darüber. Er spürte, dass Miro zitterte.

»Elno, wir müssen rein!«, zischte Finiel zu ihm herüber. Sie warf einen nervösen Blick durch die Tür. »Ich will nicht auf den letzten Metern noch erwischt werden.«

Elno strich ein letztes Mal durch Miros Haar. Miro senkte kurz den Kopf, dann drehte er sich um und lief los, um sich danach wieder vom Boden in die Luft zu erheben.

Im Inneren des Ganges fühlte sich Elno erleichtert. Finiel gab ihm eines der Schwerter.

»Versteck es in deiner Kiste«, wies sie ihn an, dann bückte sie sich und hob die Kerze auf.

»Ich bringe dich zu deinem Schlafsaal«, flüsterte sie zu Elno. »Wir reden morgen!«

Das letzte Stück ihres Weges liefen sie schweigend nebeneinander her. Elno hätte ihr gerne von den Schatten erzählt, aber er brachte kein Wort über die Lippen.

Nachdem er den Schlafsaal erreicht und sich leise wie eine Maus hineingeschlichen hatte, lauschte er in die Stille der Nacht. Der Wind war leiser geworden und der Regen war nur noch ein gewöhnlicher Regen, wie er an vielen Tagen fiel. Er schälte sich aus seiner nassen Kleidung und kroch unter seine Decke, die ihm weich vorkam wie nie zuvor. Trotz allem zitterte er und es war nicht vor Kälte.

Vielleicht, dachte er, hatten ihm seine Gefühle einen Streich gespielt, und da war nichts gewesen, schließlich hatte Finiel nichts bemerkt. Doch obwohl er sehr müde war, machte er kein Auge zu und er wusste, dass er sich die dunklen Schatten im Sturm nicht eingebildet hatte.


Der Untergang Ijarias I - Die Schatten erheben sichWo Geschichten leben. Entdecke jetzt