V - Jorian (1/4)

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»Hast du alles?«
Jorian nickte. Er hatte alles, vermutlich hatte er sogar zu viel. Auf dem Rücken trug er einen großen Rucksack, dazu hatte er sich links und rechts je eine Tasche umgehängt. Alles zusammen war schwer, zu schwer für ihn, doch er würde es nur ein kleines Stück tragen müssen. Danach würde er sein Gepäck auf einen Karren umladen können.

Maegro Kallvas hatte Wort gehalten und ihm eine großzügige Bezahlung zukommen lassen. Als er seiner Mutter von seinem Auftrag erzählt hatte, bestand sie darauf, dass er sich ordentliches Reisegepäck kaufte und einen weiteren Teil des Geldes auf eine angenehme Reisemöglichkeit verwendete. Natürlich hatte er ihr nicht alles von seinem Auftrag erzählt. Er hatte verschwiegen, um welches Buch es ging und auch, dass der Maegro ihn zwang, alles über das Buch geheim zu halten, welches schwerere als alles andere in Jorians Gepäck lastete. Jorian hatte behauptet, Maegro Kallvas wolle von ihm, dass er einem Archivar vor Ort zur Hand gehen und kopieren sollte , was dieser von ihm verlangte. Er war froh, dass seine Mutter nicht weiter nachgefragt hatte, doch war er auch gleichzeitig unglücklich darüber, dass er sie überhaupt anlügen musste.

Als er nach seinem letzten Treffen mit Maegro Kallvas nach Hause gekommen war, hatte er ihr für einen Moment alles sagen wollen, ihr erklären, in welche Lage er gekommen war. Er hatte die Hoffnung gehabt, wenn er es ihr nur sagte, würde sie schon einen Ausweg finden und sich darum kümmern, dass er nicht weiter für den Maegro arbeiten musste. Doch Jorian hatte den Gedanken verworfen. Seine Mutter konnte ihm bei vielem helfen, aber dass sie ihm in dieser Situation helfen konnte, glaubte er nicht. Er war kein Kind mehr und was er getan hatte, war keine Verfehlung eines kleinen Jungen. Er hätte seiner Mutter vermutlich nur Sorgen und Kummer bereitet. Nein, mit diesem Problem musste er alleine fertig werden.

Es war ihm viel leichter gefallen, seiner Mutter die Geschichte vom Archivar zu erzählen, dem er helfen sollte, als er es gedacht hatte. Statt sich Sorgen zu machen, war sie viel eher stolz auf ihn und hatte ihre Freude daran, dass endlich jemand sein Talent erkannt hatte. Ihre Freude traf ihn doppelt hart und mit jedem Mal, wenn sie ihn fragte, ob er sich denn auch über diese große Gelegenheit freute, log er sie erneut an. Ja, sagte er, auch er freue sich, ja, auch er sehe seine große Chance. Natürlich tat er das nicht wirklich. Er fürchtete sich vor dem, was kommen würde, wenn er das Buch kopiert und dem Maegro übergeben hatte. Würde er ihm einen weiteren Auftrag geben? Würde er ihn vielleicht trotzdem verraten? Und eine weitere Frage beschäftigte ihn immer wieder: Was hatte es mit diesem Buch auf sich?

Zu Jorians Überraschung hatte es sich bei dem Buch, das er für Maegro Kallvas ausfindig machen sollte, um einen recht gewöhnlichen Titel gehandelt. Er kannte ihn selbst und in Ijaria war er einfach zu finden. Eigentlich hatte er wieder ein düsteres Buch in der alten Sprache erwartet, aber es war in der Hochsprache und es war nicht düster, sondern viel eher lächerlich. Das Buch hieß ›Die sieben Bestien‹ und war von einem gewissen Ulisko verfasst, der im Allgemeinen als ›Ulisko der Verblendete‹ oder ›Ulisko der Blender‹ bekannt war. Ulisko hatte vor langer Zeit zahlreiche Bücher geschrieben, die alle eine Aneinanderreihung von Visionen beinhalteten.

Seine Mutter hatte Jorian einmal zu einem ihrer Liebhaber mitgenommen, welcher eine kleine Privatbibliothek besessen hatte. Er hatte sich dort umgeschaut und war auf eine Sammlung von Uliskos Werken gestoßen. In allen beschrieb Ulisko, wie er von einem übermächtigen Wesen durch die Welt geführt wurde und zahlreiche Dinge gezeigt bekam, alle verbunden mit ausführlichen Mahnungen. Als Jorian den Liebhaber seiner Mutter danach befragt hatte, hatte dieser nur mit den Schultern gezuckt und geantwortet, dass es entweder alles Unsinn sei, oder aber nur im übertragenen Sinn zu deuten wäre. Jorian hatte keinen übertragenen Sinn erkennen können und er bezweifelte, dass es ihn gab. Es wirkte einfach nur unsinnig, wenn jemand schrieb, er würde von einem übermächtigen Wesen durch die Welt geführt, um sich alles anzuschauen und mehr zu begreifen als je ein Mensch zuvor und dann im Anschluss zu wissen, was der Mensch zu tun hatte.

Der Untergang Ijarias I - Die Schatten erheben sichWo Geschichten leben. Entdecke jetzt