X - Jorian (4/5)

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Kurz darauf hörte Jorian, wie sich Schritte auf dem Kies entfernten. Als die Schritte verklungen waren und er sich sicher war, dass sie niemand mehr hören konnte, wandte er sich Nikia zu. Sein Atem zitterte. Aus Nikias Gesicht war alle Farbe gewichen. Sie starrte Jorian entsetzt an.

»Das war ...«, begann sie einen Satz, den sie nicht zu Ende führen konnte. Doch Jorian verstand auch so, was sie sagen wollte. In seinem Kopf kreisten die Gedanken in einem immer schneller werdenden Strudel. Für einen Moment begann es in seinen Ohren laut zu pfeifen und ein Schleier legte sich vor seine Augen. Er schloss sie und als er sie wieder öffnete, war Nikia aufgesprungen.

»Sie wollen Prinz Aik entführen!«, stieß sie gequält hervor. Ihre Stimme zitterte. Jorian hörte das Hämmern seines Herzens in der Brust und das Pfeifen in seinen Ohren war zu einem Rauschen geworden. Aus irgendeinem Grund wünschte er, Tore wäre hier. Auch er stand auf. Als er sich bewegte, trat Nikia einen Schritt weg von ihm, als fürchte sie mit einem Mal seine Berührung. Tränen standen ihr in den Augen. Jorian war zu keinem klaren Gedanken fähig. Ein Chaos aus dem Wunsch, Nikia zu trösten, aus der Angst, was ein Angriff auf das Schloss bedeuten mochte, was es hieß, dass es Angreifer gab, die ohne Schwierigkeiten zwei Maegri niederstrecken konnten und etwas Weiterem, das von allen am dringendsten zu sein schien, ohne dass er es zu fassen bekam, raste durch seinen Kopf und ließ ihn keinen klaren Gedanken fassen.

»Nikia ...«, begann er, streckte seine Hand aus und machte einen Schritt auf sie zu.

Doch Nikia schüttelte den Kopf und machte einen weiteren Schritt von ihm weg. Ihre Augen waren ungläubig aufgerissen.

»Wieso?«, fragte sie mit bebender Stimme und dann noch einmal, lauter, »Wieso?«

Jorian ließ den Arm sinken.

»Ich weiß es nicht«, gab er zur Antwort, auch wenn er ahnte, dass Nikia ihn nicht wirklich gefragt hatte. Nikia hatte ihre Hände zu Fäusten geballt. Dann, ohne dass Jorian sie hätte aufhalten können, drehte sie sich plötzlich um, stürzte aus der Hecke hinaus und rannte davon.

»Nikia!«, rief Jorian ihr nach, doch er rief so leise, dass sie ihn vermutlich schon gar nicht mehr gehört hatte. Eine eisige Kälte kroch über seine Beine nach oben und schien seinen ganzen Körper in Eis zu verwandeln. Was sollte er tun? Was konnte er tun? »Nichts«, sagte eine dünne Stimme in seinem Kopf, »du kannst nichts tun.«

Für einen Moment war er versucht, dieser Stimme Folge zu leisten, einfach hierzubleiben und nichts zu tun, oder vielleicht in sein Zimmer zurückzukehren, als wäre nichts passiert. Und dann, als er gerade den Eindruck hatte, dass er sich nicht mehr würde bewegen können, tauchte ein Bild in seinem Kopf auf.

Prinz Aik.

Jetzt endlich bekam er den Gedanken, der sich bisher so konsequent seinem Zugriff entzogen hatte, zu fassen. Prinz Aik war in Gefahr, war in größter Gefahr. Mit einem Mal wurde ihm klar, dass er sich selbst die falschen Fragen gestellt hatte. Es war nicht die Frage, was er tun sollte und auch nicht, was er tun konnte. Es war die Frage, was er tun musste. Und das wusste er jetzt. Es war egal, ob er es konnte oder nicht, er musste es tun. Er musste Prinz Aik retten.

Jorian trat aus der Hecke hinaus und warf einen schnellen Blick zum Himmel. Die Sonne stand tief und es würde nicht mehr lange dauern, bis sie untergehen würde. Er lief los.

Jorian rannte durch den Garten, rannte den ersten Teil des Ganges entlang und wäre beinahe einfach weitergerannt, doch sein Verstand arbeitete auf Hochtouren und bremste ihn, bevor er dort ankam, wo er auf andere Menschen treffen konnte. Alle Gedanken daran, was, wie und warum geschah, verscheuchte er und konzentrierte sich auf sein Ziel: Prinz Aik zu retten. Nikias Vater hatte gesagt, es seien 25 weitere Verschwörer im Schloss. Hinzu kam eventuell noch eine unbekannte Anzahl Anhänger des zweiten Mannes. Es war möglich, dass er ihnen auffiel, wenn er durch die Gänge des Palastes rannte. Nervös warf er Blicke links und rechts die Gänge hinunter und immer, wenn er es wagte, beschleunigte er seine Schritte wieder. Überall, so kam es ihm vor, traf er auf Gäste, die ihn mit ihren Blicken zu verfolgen schienen und ihn misstrauisch ansahen. Er schüttelte diesen Gedanken ab, so gut es ging.

Der Untergang Ijarias I - Die Schatten erheben sichWo Geschichten leben. Entdecke jetzt