III - Jorian (1/3)

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Jorian fuhr sich mit der Hand über die Augen, dann streckte er sich und kippte seinen Kopf nach rechts und links. Kopf und Rücken taten ihm weh. Er hatte lange Zeit fast regungslos an seinem Arbeitsplatz gesessen und er fühlte sich verspannt.

Das Buch ›Deho Magyr‹ lag aufgeschlagen vor ihm auf dem Tisch über einem Blatt Papier, das ungefähr zur Hälfte mit Text gefüllt war. Links daneben lag ein weiteres Buch.

»Ich kopiere«, hatte Jorian knapp geantwortet, als seine Mutter früh am Morgen bei ihm vorbeigeschaut hatte, um ihn zu fragen, was ihn so früh an den Schreibtisch trieb.

»Sehr schön«, hatte sie geantwortet, ohne sich zu erkundigen, was genau er denn kopierte. Das war Jorian nur recht, denn bisher hatte er vermieden, mit ihr über seine aktuelle Arbeit zu sprechen.

Zu Anfang hatte er den Grund dafür nicht wirklich verstanden. Auch dass Tevius ihn gebeten hatte, mit niemandem über das Buch zu sprechen, hätte ihn für gewöhnlich nicht davon abgehalten, mit seiner Mutter darüber zu reden. Er vertraute ihr. Der Gedanke, ihr etwas zu verheimlichen, erschien geradezu abwegig. Mittlerweile jedoch gab es etwas, weshalb er weder über seinen Auftraggeber noch über das Buch ein Wort verloren hatte. Dafür schämte er sich. Hinzu kamen wachsende Bedenken, dass er sich mit seinem Verhalten in Schwierigkeiten brachte, in größere Schwierigkeiten, als er absehen konnte. Dass er etwas Verbotenes tat, war ihm bewusst, aber er wusste nicht, wie verboten es war.

Er hatte aufgehört, das Buch zu kopieren. Nicht wirklich aufgehört, wie er sich immer wieder sagte, sondern pausiert. Der Selbstbetrug in diesem Gedanken war ihm bewusst und ebenso auch der Umstand, dass es eine reine Nebensächlichkeit war, wenn herauskam, was er stattdessen tat.

Denn statt das Buch zu kopieren, übersetzte er es. Nicht für Tevius und auch nicht für Maegro Kallvas, sondern für sich selbst. So war der Text, den er zu Papier gebracht hatte, in seiner eigenen, sorgfältigen Handschrift geschrieben, in einem sinnvollen und übersichtlichen Zeilenabstand.

Natürlich war sein Verständnis der alten Sprache nicht über Nacht besser geworden. Er hatte sich aus ihrem eigenen Bücherbestand das Buch ›Die vergessenen Wörter‹ herausgesucht, eine nicht besonders ausführliche, aber brauchbare Abhandlung über die alte Sprache. Das Übersetzen fiel ihm schwer, viel schwerer, als er es sich vorgestellt hatte. Drei Buchseiten hatte er in den vergangenen Tagen geschafft, in seiner eigenen Schrift füllten sie jedoch bereits sieben.

Gerade hatte er die vierte Seite beendet. Nachdem er sich ein wenig gelockert hatte, betrachtete er nun mit Schuldgefühlen das Ergebnis.

Immer noch kam es ihm seltsam vor, die Entscheidung getroffen zu haben, sich eine Übersetzung anzufertigen – nicht vom gesamten Buch, das hätte viel zu lange gedauert. Im Grunde genommen war es nur ein kleiner Teil, der ihn interessierte. Auch diesen Gedanken redete er sich zwischendurch ein, um sich zu beruhigen, wenngleich er genau wusste, dass es sich vermutlich genau um eine der Stellen handelte, deretwegen Maegro Kallvas eine Abschrift von jemandem anfertigen ließ, der nicht verstand, was er da tat.

Wenn er darüber nachdachte, so schien es Jorian, als ob es gar nicht seine eigene Entscheidung gewesen war. Vor ein paar Tagen war er aus einem schlechten Traum erwacht. Sein Bett war zerwühlt und Arme und Beine verkrampft gewesen. Obwohl es noch vor Sonnenaufgang gewesen war, war er aufgestanden. Eigentlich hatte er vorgehabt, das Buch lediglich ein weiteres Mal zu sichten. Er wollte sich ein genaueres Bild davon machen, wie er weiter vorgehen sollte. Als er an seinem Arbeitsplatz gesessen hatte und im Licht einer kleinen Lampe begann, im Buch zu blättern, hatte sich sein Verständnis von der Struktur des Buches schnell verbessert.

Das Buch, so war ihm klar geworden, bestand im Grunde genommen aus zwei Teilen. Der eine Teil war die Schilderung des Lebens des Verfassers selbst. Selbst die kleinen Auszüge, die er gelesen hatte, machten ihm klar, dass der Verfasser kein sonderlich erfreuliches Leben gehabt hatte. Es war der andere Teil, der erst Jorians Aufmerksamkeit und dann sein wachsendes Interesse hervorgerufen hatte. In der Mitte des Buches fanden sich Stellen, die sich vom Rest unterschieden. Jorian war über sie gestolpert, weil sich der Verfasser sichtbar mehr Mühe gegeben hatte, sie leserlich und genau zu Papier zu bringen. Auch die Zeichnungen, die Jorian schon beim ersten Mal aufgefallen waren, befanden sich dort. Jorian hatte sich Zeit genommen, herauszufinden, worum es sich bei diesem zweiten Teil handelte. Während es draußen bereits hell geworden war und die Lampe auf dem Tisch nur noch brannte, weil Jorian vergaß, sie zu löschen, fand er heraus, dass dieser Teil des Buches detaillierte Beschreibungen beinhaltete. Ein Wort war immer wieder aufgetaucht und hatten ihm klargemacht, was für Anleitungen es waren. ›Magyr‹.

Ein Gefühl, als wäre ihm gleichzeitig heiß und kalt geworden, hatte sich in ihm ausgebreitet. Dann hatte er begonnen, zu untersuchen, wie viele Anleitungen es waren und wie sie aufgebaut waren. Jede Anleitung bestand aus einer klar erkennbaren Überschrift, mal längeren, mal etwas kürzeren Texten und einer Reihe von Zeichnungen. An diesem Punkt hatte Jorian innegehalten und eine Weile dagesessen, ohne einen klaren Gedanken zu fassen. Wenn er sich nicht irrte und eigentlich war er sich sicher, dass er sich nicht irrte, so hatte er etwas vor sich, das er in seiner Bedeutung kaum fassen konnte. Ein paar der Überschriften hatte er verstanden, zumal die Wörter zum Teil bereits im Text davor aufgetaucht waren. ›Vitro‹ – das Blut, ›Ekklesh‹ – der Schmerz, oder ›Tjor‹ – der Tod. Sie verhießen nichts Gutes und Jorian schauderte bei dem Gedanken, was genau in den Anleitungen darunter stand. Die Vorstellung, dass die Maegri alle diese und vermutlich noch mehr Anleitungen kannten und vielleicht sogar anwenden konnten, hatte sich wie eine Eisklammer um sein Herz gelegt. Maegro Kallvas war ihm mit einem Mal bedrohlicher vorgekommen, als er es ohnehin schon tat.

Es waren nicht diese Anleitungen, die Jorian dazu gebracht hatten, eine Übersetzung anzufertigen und er hatte auch nicht vor, es zu tun. Im Grunde genommen beabsichtigte er nur eine Einzige von ihnen zu übersetzen und dann zu schauen, was sie ihm brachte. Die letzte Überschrift, der eine im Vergleich zu den anderen eher kurze Erläuterung folgte, war es gewesen, die ihn kurz darauf nach einem Blatt Papier greifen ließ und ohne genau zu wissen, was er tat. Die letzte Anleitung trug die Überschrift ›Ija‹ und war in dieser Form mit ihrer Bedeutung in den Städtenamen der Hauptstadt des freien Reiches eingegangen. Fast jeder, der hier groß wurde, wusste, was es bedeutete und damit drückte der Name der Stadt auch stets Hoffnung und den Glauben an gute Zeiten aus.

›Ija‹ bedeutete Leben.

Jetzt war er mit seiner Arbeit fast fertig und die Hoffnung, die sich mit der Anleitung verband, fand neue Nahrung, je weiter er sich dem Ende näherte. Der Zauber, denn ein solcher war es, sollte es ermöglichen, eine für ihn noch unverständliche magische Kraft dafür einzusetzen, Müdigkeit zu vertreiben, Schmerzen oder Verletzungen zu lindern, zu heilen und zu guter Letzt das Leben zu verlängern. Bei dem Gedanken daran ergriff ihn beinahe ein Hochgefühl. Ein solcher Zauber schien ihm im Vergleich zu den anderen, die im Buch erläutert waren, gut zu sein. Die Fähigkeit, ihn anwenden zu können, war ohne Zweifel nicht verwerflich. Selbst wenn herauskommen würde, dass er einen Zauber aus dem Buch kopiert hatte, war es sicher nicht so schlimm, ein wenig Magie erlernt zu haben, die dafür da war, Menschen zu helfen. Menschen – und vielleicht auch Tieren. Er dachte an seine Hündin Helma, die im Garten lag, erschöpft vom Alter und kaum noch in der Lage sich zu bewegen. Wenn er es schaffen sollte, mithilfe seiner Übersetzung das Wirken von dieser Magie zu erlernen, dann konnte er ihr vielleicht helfen und vielleicht verhindern, dass sie sterben musste. Dass sie es tun würde, wenn ihr niemand half, war nicht mehr zu übersehen.

Jorian griff erneut zur Feder, las im Buch die nächste Zeile, schaute die Wörter nach, die er nicht kannte und versuchte sich einen Reim auf die Bedeutung des nächsten Satzes zu machen. Wenn er sich beeilte, so konnte er vielleicht noch am selben Tag damit beginnen, die Anleitung zu benutzen.

Als er am frühen Nachmittag seine Arbeit vollendet hatte, war er müde und erschöpft. Die letzten Zeilen hatte er sehr unpräzise bearbeitet, aber sie schienen ihm wenig Wichtiges zu enthalten und eher dem Bedürfnis nach einem abgerundeten Textbild zu entsprechen.

Er hatte ›Die vergessenen Wörter‹ zurück ins Regal gestellt und ›Deho Magyr‹ vorerst wieder in seinem kleinen Schrank verstaut. In den Händen hielt er nun elf Bögen beschriebenes Papier. In seinem Zimmer setzte er sich auf die Kante seines Bettes und begann zu lesen.

Der Untergang Ijarias I - Die Schatten erheben sichWo Geschichten leben. Entdecke jetzt