VI - Vinja (8/8)

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Draußen auf der Straße war es bereits fast dunkel. Vinja fiel auf, dass es hier im Gleißnerviertel keine Lampen gab, die die Straße erhellten und während sie ging und das Licht weiter abnahm, wurde ihr unheimlich zumute. Sie beschloss, einen anderen Weg zurückzunehmen und ging in die Richtung, die sie für Westen hielt, um auf die südliche Himmelsstraße zu gelangen, von wo aus sie dann nach Norden bis zur Grenze des Lichterviertels gehen wollte. Die Straßen um sie herum waren schon fast leer. Nur hier und da traf sie jemanden. Dann blickte sie zu Boden und sie war froh, als sie der südlichen Himmelsstraße näher kam. Schon aus einiger Entfernung konnte sie den Lärm hören, die Stimmen, die vielen Füße, Räder und Hufe, die sich über die Straße bewegten. Bald würde auch dort etwas mehr Ruhe einkehren, aber noch war die Straße, was sie war: eine pulsierende Ader, die direkt zum Herzen der Stadt führte.

Auf der Straße allerdings wartete eine Überraschung auf Vinja. Schon als sie nur noch wenige Straßen entfernt gewesen war, hatte sie den Eindruck gehabt, die Geräusche, die sie von dort hörte, wären anders als sonst, lauter, vielseitiger. Sie hatte gedacht, es hätte an ihrer Nervosität gelegen. Sie kannte diesen Effekt, seit sie das erste Mal im Dunkeln nach Hause gelaufen war, noch damals in Halwar. Die Sinne schärften sich, gerade an den Stellen, die ihr besonders düster vorgekommen waren und man nahm Dinge besser wahr, größer, lauter, intensiver, als man es sonst tat und auch, als sie es vielleicht wirklich waren. Doch dieses Mal hatten sie ihre Sinne nicht getäuscht. Die Straße war immer noch voller Menschen, voller Karren und voller Lärm, aber alles war an den Rand gedrängt. Hier und da standen sogar kleinere Gruppen von Menschen zusammen, um einen Blick auf das zu werfen, was sie von der Mitte der Straße verdrängt hatte.

Dort liefen, in mehreren langen Reihen Soldaten. Ausgerüstet mit Helmen, Schildern, Schwertern und Rüstungen und mit einem Bündel auf dem Rücken geschnallt. Einige trugen helle Laternen an großen Stangen, mit welchen sie der Dunkelheit ihren Platz streitig machten. Zwischen ihnen befanden sich große Karren, auf denen sich weiteres Gerät befand. Fast alle liefen zu Fuß, nur hin und wieder kam jemand auf einem Pferd und ritt seitlich von den Marschierenden. Vinja betrachtete, wie sie sich vom Zentrum her in Richtung des südlichen Tors bewegten. Es schienen allesamt gewöhnliche Soldaten zu sein, doch dann kam jemand in Sicht, der ganz und gar nicht wie ein einfacher Soldat gekleidet war. Die prächtige, matt-weiße Rüstung hob sich deutlich von denen der einfachen Soldaten ab. Sie war viel breiter, viel größer und sah viel sicherer aus. Sie hatte breite und große Schultern, die den Kopf der Person, die die Rüstung trug, viel kleiner aussehen ließ, als er war. Auch das weiße Pferd, auf dem die Person ritt, war größer als die der anderen. Es hatte einen stolzen Blick und auch wenn es nur langsam zwischen den Soldaten trottete, verriet jede Bewegung seine Kraft. Es dauerte nicht lange und das weiße Pferd befand sich auf Vinjas Höhe und jetzt bestätigte sich, was Vinja schon die ganze Zeit geahnt hatte. Ihr Herz machte einen Freudensprung.

»Helgrin!«, rief sie laut und ohne nachzudenken.

Die Gestalt auf dem Pferd wandte den Blick, der bisher stolz und über die Köpfe aller hinweg geradeaus gerichtet gewesen war, zu Vinja. Es war tatsächlich Helgrin. Sie zügelte ihr Pferd, gab den Soldaten neben ihr die Anweisung Platz zu machen und steuerte auf Vinja zu.

»Vinja!«, sagte sie, ohne dass ihre Stimme irgendeine Gefühlsregung verriet. Sie schaute sich um und lenkte ihr Pferd wieder in Marschrichtung. »Lauf ein Stück mit mir.«

Vinja überlegte nicht lange und gab sich Mühe, mit Helgrin Schritt zu halten.

»Wo reitest du hin?«, fragte Vinja frei heraus.

Der Untergang Ijarias I - Die Schatten erheben sichWo Geschichten leben. Entdecke jetzt