Unter ihren Mitreisenden hatte Vinja auch Masia kennengelernt, eine alte Frau, die ihr Hab und Gut in einem Rucksack zusammengepackt hatte. Ihr Mann war vor kurzem gestorben und zu ihrer Überraschung war das neben der Trauer wie eine Befreiung für sie gewesen. Eine lang vergessene Reiselust war wieder in ihr aufgekommen, die sie aus ihrem Heimatdorf hinaus auf die Straße gelockt hatte. Auch ihr Ziel war Ijaria, wo ihre jüngere Schwester Eleane lebte und ein Bekleidungsgeschäft führte. Vinja bewunderte die Frau, die trotz ihres hohen Alters das Land bereiste. Masia erzählte Vinja viele Geschichten und das war ihr allemal lieber als die ständigen Wiederholungen ihres Vaters über Größe und Faszination Ijarias.
Doch die Anstrengungen der Reise ließen Masia wenig Luft, Vinja aus ihrem Leben zu erzählen, und der Landstrich, den sie nun durchquerten, bot so wenig Abwechslung, dass Vinja viel Zeit hatte, über das Ziel ihrer Reise nachzudenken. Zwischen Sorge und Vorfreude war sie hin- und hergerissen. Einerseits hatte sie die Reise satt und sehnte sich nach einem richtigen Bett und der Sicherheit eines Hauses. Aber gleichzeitig beunruhigte Ijaria sie. Wenn nur die Hälfte der Geschichten stimmte, die ihr Vater erzählte, dann bot Ijaria alles andere als das Gefühl von Sicherheit. Die Zweifel überwogen und so wünschte sich Vinja bei jedem Zwischenfall, ihre Eltern würden sagen: »Das war's, wir müssen umkehren!«, doch nichts dergleichen passierte. Brach ein Rad, wurde es repariert. Ein Ochse verletzte sich am Bein und wurde unter den Händen eines Mitreisenden wundersamerweise wieder gesund. Egal was passierte, irgendjemand aus der Gruppe wusste, wie das Problem zu lösen war.
»Stell dich nicht so an«, hatte Puck eines Tages zu ihr gesagt. Er war ein mitreisender Gaukler mit meckernder Stimme. »Ijaria wird dir gefallen. Die meisten Menschen würden alles darum geben, nur einmal dort hinzukommen.«
Als sie ihn gefragt hatte, ob die Geschichten ihres Vaters stimmten, hatte er gelacht.
»Dein Vater bläht sich auf, dass er noch platzen wird, wenn man ihn berührt. Aber seine Geschichten stimmen, ja. Ijaria ist riesig und du kannst dort alles finden, was du suchst. Wenn ich dir jetzt erzähle, dass dort ein Mann wohnt, der zwei Nasen hat, dann wirst du schon jemanden finden, auf den die Beschreibung passt.«
Vinja hatte ihn gefragt, ob auch wahr sei, dass es für jede Himmelsrichtung einen eigenen Markt geben würde. Daraufhin hatte Puck nur noch mehr gelacht.
»Ja, wenn du nur die großen Märkte mitzählst. Aber es gibt viel mehr als das. Eine Treppe, die niemand beschreiten kann, ein König, den keiner kennt, die mächtigsten Ritter der Welt und ein Schiff, das durch die Luft segelt!«
»Ist das dein Ernst?«, hatte Vinja gefragt.
Puck hatte die Brauen hochgezogen.
»Natürlich ist das mein Ernst. Sonst würde ich wohl Spaß machen und das kostet bei mir Geld!«
Mit diesen Worten hatte er Vinja zurückgelassen und in ihrem Kopf war ein Karussell aus Gedanken losgegangen. Gab es in Ijaria auch normale Menschen, hatte sie sich gefragt. Die Stadt war in ihrem Kopf noch weiter gewachsen und sie war düster und bedrohlich.
Trost bekam sie nur von der alten Masia.
»Das wird schon werden«, versuchte sie Vinja aufzumuntern, als sie ihr das Herz ausschüttete. »Es ist meistens gar nicht so schlimm, wie wir es uns vorstellen.«
Das wollte Vinja gerne glauben, doch fiel es ihr schwerer, je länger sie unterwegs waren.
»Wie weit ist es noch?«, fragte Vinja abends ihren Vater, nachdem sie ein provisorisches Lager errichtet hatten. Belfonso saß im Schneidersitz auf einer Decke in der Nähe ihres Karrens. Er studierte eine Karte und strich sich zwischendurch nachdenklich mit der Hand über seine Glatze. Als Vinja ihn ansprach, hob er den Blick.
DU LIEST GERADE
Der Untergang Ijarias I - Die Schatten erheben sich
FantasíaEntdecke den Untergang Ijarias - Ein episches Abenteuer voller Mut, Magie und Freundschaft! Ein dunkler Schatten zieht auf über Ijaria, der prachtvollen Hauptstadt des Freien Reiches, und das Schicksal von drei jungen Helden steht auf dem Spiel. Eln...