VII - Jorian (2/5)

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Jorian drehte den Kopf zu ihr um und sah sie an. Sie hatte ihr blondes Haar zu kleinen Schnecken an der Seite ihres Kopfes gedreht und sie funkelte ihn aus ihren hellen Augen an.

»Nein«, antwortete er, auch wenn es gelogen war. Aber was hätte die Wahrheit genutzt? Nikia konnte ihm gewiss nicht helfen, auch wenn sie es mit Sicherheit versuchen würde, wenn er ihr sagte, womit er sich in der Bibliothek beschäftigte. Sie war froh über seine Gesellschaft und Jorian ertappte sich bei der Frage, ob er vielleicht so etwas wie ein Schwarm war für sie. Bei näherer Betrachtung hatte er den Gedanken verworfen. Es gab sicher andere Gründe, weswegen sie seine Anwesenheit schätzte.

Einer dieser Gründe war wohl Prinz Aik. Er saß neben ihr an einen der Kirschbäume gelehnt und ließ ähnlich wie Jorian den Blick über das Tal und den Palast wandern. Es war für Jorian zwischendurch immer wieder befremdlich, dass er hier Zeit mit dem Sohn des Königs verbrachte. Niemand würde es ihm glauben, wenn er es jemandem erzählen würde und so recht glaubte er es selber nicht.

Nach der Einladung, die er an jenem Abend in dem Brief gefunden hatte, war er die gesamte Nacht wach geblieben. Er fürchtete sich davor, den Prinzen zu treffen, fürchtete, dieser würde seine lächerlichen magischen Fertigkeiten entdecken und ihn an die Maegri ausliefern, welche ihn ohne Umschweife nach Ijaria zurückschleifen würden. Dort würde man ihn in Ketten legen und einen Prozess machen. Er hatte seine Mutter vor sich sehen können, wie sie weinte, schockiert und entsetzt, Tevius, der ihn mit versteinerter Miene ansah und im Schatten dahinter Maegro Kallvas mit einem bösen Grinsen auf dem Gesicht. Die Vorstellung war über Nacht immer detaillierter geworden und immer realistischer, sodass er am nächsten Morgen den Eindruck hatte, er könne sich eigentlich auch gleich den Strick nehmen und so einem qualvollen Ende aus dem Weg gehen.

Er war den Morgen über im Bett geblieben, als könnte er dadurch dem unausweichlichen Treffen mit dem Prinzen aus dem Weg gehen. Den Hoffnung schaffenden Gedanken, er könnte die Einladung des Prinzen ausschlagen, hatte er direkt wieder fallen lassen. Eine Einladung des Prinzen schlug man nicht aus. Trotz allem hatte er sich bis zum Mittag kaum gerührt, als es an seiner Tür klopfte und ein Diener des Königs ihn höflich darum bat, ihn zu begleiten. Auf dem Weg war er in Gedanken alle möglichen Entschuldigungen und Erklärungen durchgegangen, die er zu seiner Verteidigung würde anbringen können, aber keine davon hielt einer kritischen Prüfung stand. Als der Diener ihm ein kleines Portal öffnete und ihn im Innern des dahinterliegenden Raumes ankündigte, hatte er ein Gefühl gehabt, als wären seine Beine aus Stein.

Im Zimmer wartete eine reich gedeckte Tafel auf ihn, die ihm fast die Schamröte ins Gesicht trieb. Vergleichbares hatte er noch nie gesehen und er erkannte schnell, dass von so einer Tafel eine ganze Familie lange hätte leben können. Es gab Obst, Gebäck, Zuckerwaren und andere Leckereien, die Jorian noch nie zuvor gesehen hatte. Alles war in doppelter oder sogar dreifacher Zahl vorhanden und fast vergaß Jorian bei dem Anblick, wieso er sich zuvor noch solche Sorgen gemacht hatte. An dem Tisch hatte er den Prinzen sitzen sehen, der ihn ruhig und interessiert anblickte, und neben dem Prinzen Nikia. In diesem Moment war ihm klar geworden, wem er die Einladung wohl zu verdanken hatte und er ärgerte sich innerlich, dass er dem Mädchen überhaupt etwas von sich erzählt hatte.

Der Diener hatte ihn zur Tafel geführt und ihm einen weich gepolsterten Stuhl angeboten und kurz darauf hatten seine Befürchtungen begonnen, sich in Luft aufzulösen. Nach einigen steifen Versuchen, ein Gespräch zu beginnen, entpuppte sich der Prinz als freundlicher Junge, der sich entgegen seiner Ankündigung in der Einladung kaum für Jorians Arbeit interessierte. Er beschäftigte sich die meiste Zeit damit, zu essen, was er offensichtlich sehr genoss und nichts deutete darauf hin, dass er etwas von Jorians Geheimnis spüren oder ahnen konnte.

Nikia interessierte sich dafür umso mehr für Jorian. Zumindest löcherte sie ihn mit allerlei Fragen, nachdem sie ihm bei seiner Ankunft ein schelmisches Grinsen zugeworfen und ihn beinahe verschwörerisch zugeblinzelt hatte.

Er hatte versucht, so wenig wie möglich von seinen Nachforschungen preiszugeben, aber sie fragte so hartnäckig nach, dass er ihr nach und nach mehr erzählen musste. Als er von dem Labyrinth in der Bibliothek berichtete, bekam sie große Augen und auch Prinz Aik mischte sich kurz in das Gespräch ein.

»Ach ja, das Labyrinth«, sagte er wie nebenbei. Dann nahm seine Stimme einen fast traurigen Klang an: »Es war eine Idee meiner Mutter.«

Sein Blick glitt kurz in die Ferne, dann widmete er sich wieder der Melone, die er gerade aß.

Nikia hatte nach immer mehr Details gefragt, aber schon nach kurzer Zeit hatte Jorian den Eindruck, dass sie sich nicht wirklich dafür interessierte, was er erzählte, sondern vielmehr, dass er etwas erzählte. Immer, wenn zwischendurch Prinz Aik etwas sagte, verdrehte sie in gespielter Gereiztheit die Augen, zumindest immer dann, wenn sie sich sicher war, dass Prinz Aik sie nicht dabei beobachtete. Jorian schien es, sie hoffe auf sein stilles Einverständnis, dass Prinz Aik eine absolut uninteressante Person war. Aber Jorian konnte dies weder bestätigen noch verneinen. Prinz Aik war immer freundlich, sagte nie viel und beschränkte sich auf knappe Fragen und kurze Einwürfe.

Auf die erste Einladung war eine zweite gefolgt und zu Jorians Verwunderung eine dritte. Zuerst war er ihnen nur widerwillig gefolgt, aber als Prinz Aik ihm nach dem dritten Treffen anbot, sie auch am folgenden Tag zu besuchen, willigte er ein, ohne weiter darüber nachzudenken. Die Gesellschaft der beiden tat ihm gut, wie er nach einiger Überlegung festgestellt hatte. Und auch Nikia und Prinz Aik schienen Gefallen an seiner Anwesenheit zu finden.

Seitdem trafen sie sich regelmäßig und Jorian fand vor sich selbst immer neue Entschuldigungen, wieso es unumgänglich war, an einem kleinen Ausflug oder einem langen Essen teilzunehmen, anstatt sich mit der Bibliothek zu beschäftigen. Doch langsam gingen ihm die Gründe dafür verloren und der Selbstbetrug stand ihm deutlicher denn je vor Augen. Innerlich bedauerte er es bereits, in den kommenden Tagen wieder mit seiner Arbeit fortzufahren.

»Seht mal!«, rief Nikia mit einem Mal aus, »dort unten!«


Der Untergang Ijarias I - Die Schatten erheben sichWo Geschichten leben. Entdecke jetzt