»Auf Wiedersehen, Nush!«
Nush verfolgte Jorian mit seinen wässrigen Augen und verbeugte sich schließlich, ohne seinen Platz auf dem Hocker neben der Tür des Librors zu verlassen. Jorian nickte ihm noch einmal zu und verließ die Bibliothek. Als er die Tür hinter sich ins Schloss zog, glitt ein zufriedenes Lächeln über sein Gesicht.Es war ein erfolgreicher Tag gewesen, ein erfolgreicher Tag, der erfolgreiche Wochen abschloss.
Er wusste nicht wirklich, woran es lag. Vielleicht hatte die Pause, die er aufgrund der Treffen mit Prinz Aik und Nikia eingelegt hatte, ihm gutgetan, vielleicht war es auch etwas anderes, er konnte es nicht sagen. Aber seit er wieder begonnen hatte, in der Bibliothek zu arbeiten, war er deutlich besser vorangekommen als noch zuvor.
Zuerst hatte er es geschafft, seine Karte fertigzustellen. Sie war gut geworden. Ein paar Tage hatte er darauf verwandt, sie auszuprobieren und nachdem er kleinere Unstimmigkeiten korrigiert hatte, konnte er sich mit ihrer Hilfe in der Bücherei zurechtfinden. Damit war das erste Verwirrspiel geknackt und nun, wo er sich zurechtfand, hatte er den Eindruck, dass die verworrenen Wege doch eine sehr oberflächliche Art waren, jemanden daran zu hindern, ein bestimmtes Buch zu finden.
Jetzt war es an der Zeit, das zweite Geheimnis der Bibliothek zu lüften. Auch hier hatte er einige interessante Entdeckungen gemacht, auch wenn er noch nicht genau wusste, wie sie zu deuten waren.
Die erste Entdeckung hatte er Nush zu verdanken und seit diesem Tag freute er sich jedes Mal, wenn er ihn sah.
Der Winter stand vor der Tür. Es war an einem besonders regnerischen und kalten Tag gewesen, mit einem Himmel so dunkel, dass Jorian eine Lampe gebraucht hatte, um sich zurechtzufinden. Er hatte gerade den nördlichen Teil seiner Karte abschließend überprüfen wollen, als er einsehen musste, dass das Öl seiner Lampe bald zu Ende sein würde und er die Bibliothek verlassen musste, als er nicht weit von sich entfernt Nushs Stimme gehört hatte. Zuerst war er erschrocken zusammengefahren, denn es war das erste Mal, dass sich jemand außer ihm selbst in der Bibliothek aufhielt. Nach einer kurzen Überlegung hatte er entschlossen, herauszufinden, was Nush machte. Der Weg im Labyrinth führte ihn zuerst von Nush weg und zwischendurch befürchtete er schon fast, er hätte ihn verpasst, als er wieder seine Stimme hörte.
Nush befand sich in einem Gang, der auf der anderen Seite eines Bücherregals lag, welches Jorian von ihm trennte. Ohne weiter nachzudenken, hatte Jorian seine Lampe gelöscht und, so leise er konnte, ein paar Bücher herausgenommen, um einen Blick auf Nush werfen zu können.
Dieser stand ebenfalls mit einer Lampe im anderen Gang und plapperte vor sich hin, während er mit dem Finger über die Buchrücken glitt. Unter seinem linken Arm hatte er ein Buch geklemmt. Jorian hatte erwartet, Nush würde sich die Titel vorlesen, aber das tat er nicht. Zu Jorians Überraschung zählte er.
Jorian war erstarrt. Angestrengt hatte er versucht, zu erkennen, was genau Nush zählte. Aber während seine Finger über die Buchrücken glitten, wiederholte er genau genommen immer wieder die gleiche Zahl.
»5... 5... 5... 5... 5... 5«
Nushs Finger verweilte kurz auf einem Buchrücken. Er zog das Buch heraus und betrachtete den Buchdeckel, als müsse er überlegen. Dann fuhr er fort: »5... 5... 5.«
Einen Moment hatte Jorian an Nushs Verstand gezweifelt, doch beobachtete er ihn weiter. Nush war sicher nicht aus Zufall hier und vielleicht würde er keine zweite Gelegenheit wie diese bekommen. Angestrengt versuchte er, den Titel des Buches zu erkennen, welches Nush unter dem Arm trug, doch ohne Erfolg. Immer wieder zog Nush Bücher aus dem Regal, nur um dann weiter zu zählen wie zuvor.
»5... 5... 5«
Er kam an den Rand von Jorians Blickfeld und als Jorian ein weiteres Buch aus dem Regal zog, zuckte Nush zusammen und sah sich um. Einen Moment stand er schweigend im Schein seiner Lampe und blickte den Gang hinunter, aus dem er gekommen war. Zu Jorians Glück blickte er jedoch nicht zum Bücherregal herauf, durch welches er ihn beobachtete. Nach einer Weile setzte Nush seine Suche fort, bis er schließlich an einem Titel innehielt.
»6!«, rief er aus, nur um sich dann erschrocken vom lauten Klang seiner eigenen Stimme erneut umzuschauen.
»6!«, wiederholte er noch einmal im Flüsterton. Dann nahm er das Buch unter seinem Arm hervor, rückte die Bücher im Regal ein wenig zur Seite, stopfte das seinige in die geschaffene Lücke und betrachtete zufrieden sein Werk. Dann sah er sich erneut um und watschelte anschließend davon, ohne Jorian zu bemerken.
Jorian blieb in der Dunkelheit zurück. Erst jetzt fiel ihm ein, dass er keine Möglichkeit hatte, die Lampe wieder zu entzünden. Er hatte in der Dunkelheit gestanden und nachgedacht. Irgendwie musste er die Stelle markieren, unauffällig und trotzdem sichtbar, sodass er sie mit besseren Lichtverhältnissen wiederfinden konnte. Angestrengt hatte er versucht, irgendetwas auf seiner Karte zu erkennen, doch das spärliche Licht, was zu ihm in den Gang fiel, reichte gerade dafür aus, zu sehen, dass er überhaupt etwas in der Hand hielt, in keinem Fall aber dafür, die Stelle zu entdecken, wo er war. Nachdem er eine Weile nachgedacht hatte, kam ihm eine Idee. Er wusste, dass er sich in der nordöstlichen Ecke der Bibliothek befand, unweit vom Ausgang entfernt. Es würde also nicht allzu schwer sein, wieder hierher zu finden. Um sich den Ort genauer zu markieren, stapelte er die Bücher, die er herausgenommen hatte, um Nush zu beobachten, waagerecht ins Regal zurück, anstatt sie einfach wieder hineinzuschieben. Wenn niemand kommen würde und zufällig die Bücher entdeckte, dann würde er die Stelle von beiden Seiten des Regals erkennen können und so eventuell auch Nushs neu einsortiertes Buch finden.
Danach hatte er sich fast blind aus der Bibliothek hinausgetastet. Er war froh, dass er sich in der Nähe des Ausgangs befunden hatte.
Am nächsten Tag hatte er sich gleich daran gemacht, die markierte Stelle ausfindig zu machen. Auch wenn draußen immer noch die Herbststürme wüteten, so war es doch nicht ganz so dunkel und es war möglich, auch ohne Lampe zu arbeiten. Zwar gestaltete es sich schwieriger als erwartet, die quergelegten Bücher zu finden, doch nachdem er einige Male die Gänge auf und ab gelaufen war und schon befürchtet hatte, jemand hätte sie bereits wieder ordentlich eingeräumt, hatte er sie gefunden.
Als Erstes hatte er sich eine Markierung auf der Karte gemacht. Nush hatte weiter oben im Gang zu zählen begonnen und war dann Richtung Süden gelaufen. Oberhalb der Markierung notierte Jorian eine »5«, unterhalb der Markierung eine »6«.
Seitdem hatte er eine Reihe weiterer Entdeckungen gemacht. Nachdem er begonnen hatte, die Titel und Verfasser in dem markierten Bereich zu untersuchen, hatte er festgestellt, dass hier vor allem Titel und Verfasser mit den Anfangsbuchstaben »B« und »C« dominierten, auch wenn es auch welche mit »A«, »D«, »E« und »F« gab. Weiter im Norden, also dort wo er eine »5« notiert hatte, kam dagegen das »F« überhaupt nicht vor, während weiter den Gang hinunter die Mischung der Anfangsbuchstaben zunahm und zusätzlich das »G« vorkam.
Die Arbeit war mühsam und schwierig, da er immer wieder Bücher aus den Regalen zog, sich die Titel und Verfasser notierte, sie zurückstellte und dann, nachdem er ein Regal durchgearbeitet hatte, die Titel und Verfassernamen auswerten musste. Zuletzt hatte er gedacht, er hätte sich in eine unsinnige Zufälligkeit verstrickt, als am unteren Ende, wo die Bibliothek an die südliche Außenwand grenzte, nach einer Biegung die Mischung der Anfangsbuchstaben wieder völlig zufällig verteilt zu sein schien. Er hatte einige Tage damit verbracht, ein System herauszufinden, aber keines gefunden. Bis heute.
Das heißt, an der eigentlichen Stelle war er nicht weitergekommen, aber in seinem Frust war er wieder zurück in den nördlichen Teil der Bibliothek gelaufen, wo er schließlich an der nördlichen Außenwand erneut fündig geworden war. In einem Parallelgang zu einem, in welchem er zuvor gewesen war, entdeckte er die Fortsetzung der unten beendeten Reihe der Buchstaben. Der im Alphabet am weitesten vorangehende Buchstabe war am Südende »H« gewesen, worauf wieder die scheinbar willkürliche Fortsetzung erfolgt war. Hier, am Nordende jedoch, gingen die Buchstaben der Titel und Verfasser nur bis »H« und dann nach einem Stück weiter bis nach »I«.
Vor Freude hätte er fast laut gejubelt. Es ging also nicht unten weiter, sondern oben, wo es auch angefangen hatte. Er notierte die Buchstabengrenzen auf seiner Karte und beendete damit die heutige Arbeit. Auch wenn er das Gesamtkonzept noch nicht durchdrungen hatte, so hatte er doch das Gefühl, ein gutes Stück weitergekommen zu sein.
Vor der Bibliothek atmete er einmal tief durch. Dann machte er sich auf den Weg zu seiner Kammer. Normalerweise hätte er noch weiter arbeiten können. Es war erst kurz nach Mittag, aber eine Verabredung wartete auf ihn.
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Der Untergang Ijarias I - Die Schatten erheben sich
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