»Wer war der Mann?«
»Ich weiß es nicht.«
Schweigen. Vinja blickte an der langen Tafel entlang. Sie kannte wenige der Anwesenden. Ganz rechts saß Hauptmann Klaff, zwei Plätze daneben saß Laeda Zola, die anderen der fünf Anwesenden kannte Vinja nicht und sie hatten sich auch nicht die Mühe gemacht, sich vorzustellen. In der Mitte saß ein Mann, der in dunkle und faltige Gewänder gehüllt war. Er hatte ein fleischiges Gesicht und seine Stimme war hoch und fistelig.
»Wer waren seine Verfolger?«
»Ich weiß es nicht.«
Schweigen.
Der Raum war groß und bot Platz für viele Menschen, aber im Gegensatz zu seiner Größe war er fast leer. Er befand sich im zweiten Stock der Kaserne und die kleinen Fenster ließen nur wenig Licht herein. Der steinerne Boden hatte keine Teppiche und außer der Tafel und den großen Stühlen, auf denen das Militärgericht saß, gab es keine weiteren Möbelstücke. Vinja musste stehen.
»Wieso wurde er verfolgt?«
»Ich weiß es nicht.«
Schweigen.
So ging es nun schon eine ganze Weile. Vinja wusste zu keiner der Fragen eine Antwort und wenn, dann war sie vage und ungenau. Sie entsprachen alle der Wahrheit, denn Vinja wusste wirklich keine Antworten.
»Wieso bist du ihnen hinterhergelaufen?«
Vinja überlegte kurz. Was sollte sie antworten? Sie war sich selbst nicht sicher, was genau der Grund gewesen war.
»Antworte!«, herrschte Zola sie an.
»Ich weiß es nicht genau, ich dachte, ich müsste helfen.«
Wieder sagte niemand etwas. Der Mann in der Mitte, der den Vorsitz über die Verhandlung führte, schob ein Pergament zur Seite und nahm ein weiteres zur Hand. War er ein Richter? Sollte sie ihn besser mit Richter ansprechen als mit Siero?
»Die Spitze eurer Zehn ist Rekrut Ekkel?«
»Ja, Siero.« Vinja blickte zu dem Mann auf, aber der beachtete sie gar nicht. War ›Siero‹ die richtige Anrede? Würde es ihr negativ ausgelegt, wenn sie es nicht war?
»Rekrut Ekkel hat uns berichtet, er hätte dir befohlen, dass du deinen Posten nicht verlassen solltest und dass du ihn beiseite gestoßen hast. Stimmt das?«
»Ja, Siero.«
»Und das tatest du, um zu helfen.«
Vinja war sich nicht sicher, ob das als Frage gestellt war und blickte zu Zola. Zola warf ihr einen strengen und ungehaltenen Blick zu, aber sie nickte Vinja zu.
»Ja, Siero, das stimmt.«
»Einen dir vorgesetzten Rekruten beiseite zu stoßen, hältst du also für eine Hilfe im Dienste des Königs?«
Vinja schwieg. Ihre Zunge war schwer und ein Gefühl der Leere breitete sich in ihr aus. Ihr Blick glitt für einen Moment zu einem der kleinen Fenster.
»Antworte!«, herrschte Zola sie erneut an.
»Nein, Siero«, sagte Vinja mit trockener Stimme.
»Wieso tatest du es dann?«
»Ich weiß nicht, Siero.«
Schweigen.
»Wer war der Mann?«
»Ich weiß es nicht.«
Der Vorsitzende hob den Blick und Vinja hatte den Eindruck, er würde durch sie hindurchschauen können.
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Der Untergang Ijarias I - Die Schatten erheben sich
FantasiaEntdecke den Untergang Ijarias - Ein episches Abenteuer voller Mut, Magie und Freundschaft! Ein dunkler Schatten zieht auf über Ijaria, der prachtvollen Hauptstadt des Freien Reiches, und das Schicksal von drei jungen Helden steht auf dem Spiel. Eln...