VI - Jorian (2/7)

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Als Jorian die Augen aufschlug, war es um ihn herum ebenfalls so dunkel, dass er den Eindruck hatte, er würde immer noch schlafen. Doch dann sah er das milde Licht des Mondes zwischen den dicken Vorhängen hindurchfallen und als sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, erkannte er auch die Umrisse des Mobiliars in seinem Zimmer. Der Tisch, der Sessel, der Schrank, sein Bett. Er seufzte und wartete, bis er wieder ganz in der Wirklichkeit angekommen war. Dann stand er auf, trat ans Fenster und zog die Vorhänge beiseite. Kalte Luft zog ihm entgegen und ließ ihn einen Moment frösteln. Draußen sah er, dass die Wolkendecke an einer Stelle aufgerissen war. Der Mond schien zu ihm herunter und tauchte das Land um den Palast herum in fahles Licht. Sein Blick glitt zum Kirschbaumhain, der wie ein Ring um den Palast gelegt war. Wind rauschte durch die Blätter und wiegte die Äste hin und her.

Wie lange es wohl noch bis zum Morgen dauern würde? Vermutlich hatte er noch nicht lange geschlafen, als ihn der Traum geweckt hatte. Er versuchte sich zu erinnern, doch er kam nicht darauf, ob er jemals einen Traum nach einiger Zeit weitergeträumt hatte. Noch dazu fühlte sich der Traum im Traum selbst sehr real an. Die Erinnerung an das Gefühl, Flügel und Federn zu haben, ließ ihn auf seine Hände schauen. Sie sahen aus wie eh und je.

Er zog die Vorhänge wieder zu, legte sich zurück ins Bett und versuchte, wieder einzuschlafen. Es gelang ihm nicht. Stattdessen tauchten Bilder und Gedanken der vergangenen Tage in ihm auf.

Sein erster Besuch in der Bibliothek war verstörend gewesen, in vielerlei Hinsicht. Der Kammermeister hatte ihn schon im Laufe des nächsten Tages nach seiner Ankunft zur Bibliothek gebracht. Sie lag ihm Ostflügel und damit auf der gegenüberliegenden Seite des Palastes. Kammermeister Wolrik hatte ihn bis zu der großen Tür begleitet, die zur Bibliothek führte und sich dort höflich von ihm verabschiedet. Jorian hatte den Eindruck gehabt, dass Wolrik nicht länger hatte bleiben wollen. Er hatte mit gemischten Gefühlen an die Tür geklopft. Nach einer Weile hörte er das metallische Geräusch großer Riegel und kurze Zeit später wurde ihm die Tür geöffnet.

Dahinter stand ein Junge, der in etwa so alt wie Jorian selbst sein musste. Er hatte einen Buckel und hielt den Kopf schräg, damit er Jorian aus wässrigen Augen anschauen konnte. Sein Mund stand offen und entblößte schlechte Zähne. Unwillkürlich erinnerte er Jorian an einen geprügelten Hund.

»Ja?«, hatte der bucklige Junge gefragt.

Jorian hatte ihm seine Erlaubnis, die Bibliothek zu benutzen, vor die Augen gehalten. Der Junge musterte das Schreiben eine Weile mit kritischem Blick, wobei Jorian den Eindruck nicht loswurde, dass er es überhaupt nicht las.

»Herein!«, hatte er irgendwann mit einer unbeholfenen Verbeugung gesagt und Jorian war ihm in den Vorraum der Bibliothek gefolgt.

Hier standen einige Bänke mit Tischen, offensichtlich ehemals zum Lesen gedacht. Ihr schlechter Zustand allerdings ließ darauf schließen, dass sie lange nicht mehr benutzt worden waren. Hinter diesem Lesebereich begann die eigentliche Bibliothek, deren Regale so gestellt worden waren, dass es nur einen einzigen Eingang in die Regalreihen gab. Auf Anhieb war dieser Umstand Jorian seltsam vorgekommen und zu Recht, wie er später herausfinden sollte.

Mit watschelndem Gang war der Junge zu einer weiteren Tür an der Seite gelaufen und hatte »Libror Alachondes, Libror Alachondes!« gerufen, woraufhin die Tür ruckartig aufgerissen wurde und ein sehr unzufrieden dreinblickender alter Mann heraustrat. Sein Haar war ebenso wild wie sein Blick, mit welchem er den buckligen Jungen unzufrieden musterte.

»Was?«, hatte er laut gerufen und der Junge war wie unter einem Hieb zusammengezuckt.

»Wir haben Besuch!«

Libror Alachondes hatte den Blick vom Jungen abgewandt und Jorian entdeckt und in seinem Gesicht hatte sich eine Mischung aus Verwunderung, Ärger und Sorge abgezeichnet.

Der Untergang Ijarias I - Die Schatten erheben sichWo Geschichten leben. Entdecke jetzt