V - Vinja (2/4)

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Bei ihrem ersten Treffen hatte Vinja den Platz der Sonne mit klopfendem Herzen betreten und wenig Augen für seine Extravaganz und Schönheit gehabt. Die Frage, ob Helgrin sich tatsächlich mit ihr treffen würde, war während ihres Hinwegs immer drängender geworden und als sie sich ihrem Ziel genähert hatte, war sie sich sicher gewesen, dass Helgrin nicht auftauchen würde. So überzeugend war die innere Stimme gewesen, die sich darüber lustig machte, dass sie daran glaubte, jemand wolle sich früh morgens mit ihr treffen, um ihr zu helfen, besser in Ijaria zurechtzukommen, dass Vinja fast wieder umgekehrt wäre.

Aber Helgrin war da gewesen. Am ersten Tag und auch am zweiten und dann immer, wenn sie sich verabredeten. Zwar trafen sie sich nicht jeden Tag, aber sie gingen nicht auseinander, ohne dass Helgrin ihr sagte, wann sie wiederkommen sollte. Auch heute war Helgrin da. Wie so oft saß sie auf einer der Bänke, aber nicht auf der Sitzfläche, sondern auf der steinernen Lehne, breitbeinig, die Ellenbogen auf den Knien und die Hände gefaltet. Als sie Vinja sah, stand sie auf.

»Hallo Vinja!«

»Hallo«, antwortete Vinja und verbeugte sich, wie sie es immer tat. Zwar hatte Helgrin sie nicht dazu aufgefordert, vielmehr hatte Vinja es bei ihrem ersten Treffen aus Unsicherheit getan, aber Helgrin hatte ihr auch nicht gesagt, dass sie es lassen sollte und so blieb sie dabei.

»Geht es dir gut?«

Vinja nickte. Sie mochte die Frage von Helgrin, denn sie wirkte niemals floskelhaft und zusammen mit ihrem ernsten Blick, mit welchem sie Vinja direkt in die Augen schaute, wirkte die Frage immer ernst gemeint.

Vinja nickte immer, auch wenn es ihr nicht gut ging und Helgrin sie bisweilen mit zusammengezogenen Brauen kritisch ansah. Vinja hätte Helgrin vielleicht manchmal sogar etwas von sich erzählt, aber sie wusste, dass die Zeit für das gemeinsame Üben knapp war und sie wollte nichts davon verschwenden.

Heute hatte sie tatsächlich nichts, was ihr auf dem Herzen lag und Helgrin nickte zufrieden.

Sie machten sich auf in Richtung des Weges, der zum Park führte. Vinja beeilte sich, mit ihr Schritt zu halten.

»Fühlst du dich ausgeruht?«, fragte Helgrin.

Wieder nickte Vinja. Die Frage irritierte sie. Dass Helgrin sich nach ihrem Befinden erkundigte, war nichts Ungewöhnliches, aber dass sie wissen wollte, ob sie ausgeruht war, war neu. Als Helgrin weitersprach, ahnte Vinja, worauf die Frage abzielte. Spannung und Neugierde breiteten sich in ihr aus.

»Ich werde mir heute anschauen, wie gut du das, was ich dir bisher gezeigt habe, gelernt hast. Wenn du gut bist, werden wir nächstes Mal mit etwas Neuem anfangen.«

Vinja nickte stumm, doch innerlich war sie aufgeregt. Bisher hatte Helgrin ihr gezeigt, wie man ohne Waffen gegen jemand anderen kämpfen konnte. Das war gut und interessant gewesen, aber Vinja hatte sich schon des Öfteren gefragt, wann Helgrin gedachte, ihr den Kampf mit einer Waffe beizubringen, einem Schwert, oder einem Messer. Wenn Helgrin sagte, sie würde ihr etwas Neues beibringen, dann konnte es eigentlich nur in diese Richtung gehen. Zwar wusste sie nicht, wie Helgrin sie prüfen würde, aber sie würde es schaffen. Alles, was Helgrin ihr zeigte, übte sie auch Zuhause und bisher hatte Helgrin nichts an ihr auszusetzen gehabt.

Als sie ihren Platz erreicht hatten, zog Helgrin sich zwei Handschuhe an, deren Handinnenflächen besonders gepolstert waren. Vinja hingegen wickelte sich Bänder aus dickem und festem Stoff um die Hände, damit sie sich die Knöchel nicht aufrieb. Auch mit den Bändern waren sie wund, aber ohne Bänder war es viel schlimmer und schmerzte mehr. Helgrin hob die behandschuhten Hände in Kopfhöhe und drehte die Polster in Vinjas Richtung.

Der Untergang Ijarias I - Die Schatten erheben sichWo Geschichten leben. Entdecke jetzt