IX - Jorian (1/5)

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Es war dunkel, kalt und feucht. Draußen wütete der Sturm und er saß immer noch hier, ohne eine Möglichkeit für ein Vor oder Zurück. Das hieß, eine Möglichkeit gab es schon, er hätte sich hinunterstürzen können in die Schwärze des Turms, hinab in die bedrohliche Finsternis. Doch er wagte es nicht.

Stattdessen saß er stumm da und wartete, dass der Sturm draußen schwächer werden würde, aber je länger er wartete, desto klarer wurde ihm, dass diese Hoffnung vergebens war. Der Sturm wütete und wütete und niemals hellte sich der Himmel auf, stoppte der Regen oder endete das Donnern.

Er sah hinab in den schwarzen Schacht. Da war es noch. Weit unten pulsierte ein kleines Licht, welches bisweilen den Turm heraufkletterte und die bedrohliche Dunkelheit zurücktrieb. Dann hoffte er, es würde ihn erreichen, hinausdringen durch den Spalt in den Sturm und ihm eine sichere Passage zurück nach Hause bieten. Doch bisher war es nicht bis oben gekommen. Zwar hatte es seit dem ersten Mal, als er es bemerkt hatte, weiter heraufgereicht, immer ein Stückchen, aber nie war es ganz bis zu ihm gekommen. Immer wieder kehrte die Finsternis zurück und zwang ihn, sich wieder in die Felsspalte zurückzukauern.

Lange war es her, seit das Licht das letzte Mal heraufgekommen war und er war voller Sorge, es wäre völlig verschwunden. Doch jetzt, wo er erneut in den Schacht hinunterspähte, sah er es. Es war noch da.

Noch während er hinabschaute, sah er, wie das Licht wieder zu pulsieren begann. Es wurde heller, stärker und schob sich nach und nach die Wände herauf. Sein kleines Herz hämmerte. Immer näher kam das Licht. Er fürchtete, es würde zurückfallen, wieder verschwinden, ihn wieder zurücklassen, doch irgendetwas war anders. Als das Licht ihn fast erreichte und er schon einen Hauch eines angenehmen Windes zu verspüren meinte, fiel es ein weiteres Mal zurück. Er sah ihm nach, wie der Rand des Lichtes an den Wänden zurückwanderte und das silberne Leuchten wieder der Dunkelheit wich. Doch ein seltsames Gespür, dass es nicht vorbei war, glitt ihm durch die Federn und anders als sonst blieb er am Rande sitzen.

Dann schoss mit einem Mal ein Kegel hellen, silbernen Lichts herauf, vertrieb die Dunkelheit und schien sie hinauszuwerfen aus dem Turm, als würde ein böser Geist vertrieben. Er hatte den Eindruck, der Turm erbebte unter dem Dröhnen eines riesigen Gongs, dann wechselte das Licht die Farbe von Silber zu Gold und ihm war, als schiene die Sonne auf ihn, zum ersten Mal seit so langer Zeit. Er wartete noch einen unentschiedenen Moment, dann stürzte er sich über die Kante und segelte hinab in den nun nicht mehr schwarzen Turm. Jetzt, wo die Dunkelheit vertrieben war, wirkte er gar nicht mehr bedrohlich. Die Wände waren glatt und hell und hatten eher etwas Freundliches, Feierliches an sich.

Als er dem Boden näher kam, brachte ihn eine Entdeckung so aus dem Konzept, dass er trotz allem beinahe gegen eine Wand geflogen wäre. Mühevoll brachte er sich wieder in seine Bahn zurück.

Auf dem Boden in der Mitte des Turms saß eine Frau. Ob sie alt war oder jung, konnte er nicht sagen. Sie hatte langes, graues Haar, aber ein Gesicht, das sowohl die Züge eines Mädchens als auch die einer alten Frau trug. Sie hatte einen grauen Mantel an und saß einfach da, mit geschlossenen Augen, atmete ruhig und entspannt.

Vorsichtig landete er auf einem großen, rechteckigen Steinklotz, welcher der Frau gegenüber nahe der Wand stand und reich geschmückt war mit aufwendigen Verzierungen.

Kaum war er gelandet, öffnete die Frau die Augen. Als sie ihn entdeckte, lächelte sie warm und an ihren Augen bildeten sich kleine, fröhliche Lachfalten.

»Hallo«, sagte sie mit einer freundlichen und tiefen Stimme, »Na, das wurde ja auch Zeit, dass du mal von da oben herunterkommst, nicht wahr?«

Er legte den Kopf schief und gab ein aufgeregtes Zwitschern von sich. Sie stand auf und trat auf ihn zu.

»Ich denke, wir haben nicht so viel Zeit, deswegen mache ich es ganz kurz.«

Wie um ihre Worte zu unterstreichen, gab es draußen ein lautes Donnern, das die Wände des Turms erbeben ließ. Aufgebracht schaute er sich um. War das Licht schon etwas dunkler geworden?

Auch die Frau hatte sich umgeschaut. Jetzt aber blickte sie ihm direkt in die Augen und ihre Stimme bekam mit einem Mal etwas sehr Bestimmendes und Eindringliches.

»Sag Tore, dass ich seine Hilfe brauche. Sag ihm, dass ich beim Meeresgrab bin. Sag ihm, er soll das Portal öffnen, aber nicht hindurchgehen. Sag ihm, er soll vorsichtig sein.«

Von draußen drang ein lang gezogenes, schrilles Rufen heran, welches er bereits zuvor, noch in der Spalte kauernd, gehört hatte.

Ein weiterer Donner grollte über den Turm hinweg. Jetzt war er sich sicher. Das Licht wurde schwächer, verlor seine goldene Farbe und wechselte langsam wieder ins Silberne zurück. Er gab erneut sein helles Zwitschern von sich.

»Ich weiß«, sagte die Frau lächelnd, anscheinend weniger beeindruckt von Donner und Dunkelheit, als er es war, »ich habe mich noch gar nicht vorgestellt.« Jetzt war sie ganz nah an ihn herangetreten und sah ihm in seine kleinen Augen.

»Ich bin Moywin.«


Der Untergang Ijarias I - Die Schatten erheben sichWo Geschichten leben. Entdecke jetzt