IX - Vinja (2/5)

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Die Reise auf dem Schiff war für Vinja vor allem eins: eintönig. Nach der gefühlten Ewigkeit in der Kasernenzelle war es ihr gar nicht recht, erneut auf engem Raum eingesperrt zu sein, noch dazu mit der Gesellschaft von Hawegen und den vier Matrosen. Sie fanden Gefallen daran, Vinja für ihre wackeligen Beine zu verspotten und Bemerkungen über ihre Übelkeit zu machen. Und übel war ihr. Seit Beginn der Fahrt hatte sie sich mehrfach übergeben und nun hatte sie großen Hunger. Von dem Essen, das es an Bord gab, bekam sie kaum etwas herunter. Es gab trockenes Brot, das nach nichts schmeckte und Äpfel, die in einem großen Fass an Deck gelagert wurden.

Erst jetzt hatte Vinja angefangen, sich über ihre Verpflegung Gedanken zu machen. Masia hatte ihr ein kleines Bündel mit Proviant zusammengepackt, getrocknete Früchte, Nüsse und Kekse. Gerne hätte Vinja etwas davon gegessen, aber sie zwang sich zur Enthaltsamkeit. Sie wusste nicht genau, wie weit sie würde laufen müssen und erst recht nicht, wie sie es zurück nach Ijaria schaffen sollte. Das hieß, sofern sie überhaupt dorthin zurückwollte.

Vinja hatte keine Vorstellung, was sie machen sollte, nachdem sie Moywin gefunden und ihr die schlichte Botschaft überbracht hatte. Bei einer Rückkehr nach Ijaria würde sie sicher mit Ärger rechnen müssen. Vinja hatte gehört, dass eine Flucht beim Militär bestraft wurde, aber sie wusste nicht wie schwer. Auch hatte sie überlegt, zu ihren Eltern in die Wäscherei zurückzukehren, doch seit sie von Zuhause weggegangen war, hatte sie nichts mehr von ihren Eltern gehört. Die Vorstellung, erneut die Schikanen ihrer Eltern über sich ergehen zu lassen, war ihr ein Graus. Ob ihre Eltern bereits erfahren hatten, dass sie geflohen war? Hatte es Konsequenzen für ihr Geschäft mit der Königsgarde? Je weiter Ijaria hinter ihr zurücklag, desto mehr fragte sie sich, ob ihre Entscheidung klug gewesen war. Dann fiel ihr oft das verzweifelte Gesicht des sterbenden Mannes ein, von dem sie nicht einmal den Namen kannte und ihre Zweifel verstummten, zumindest für eine Weile.

»Wir sind bald da!« Die Stimme Hawegens riss sie aus ihren Gedanken. Zwar stand sie an der Reling des Schiffes, aber ihr Blick ging leer nach Norden, wo nichts als hügeliges Grasland zu sehen war. Es war ein kalter Tag mit eisigem Ostwind. Vinja hatte ihren Mantel um sich gezogen, so gut es ging. Als sie sich umdrehte, blickte sie in das wettergegerbte und vom Leben gezeichnete Gesicht Hawegens. »Freust du dich schon?«, fragte er und grinste breit und herablassend.

Vinja zuckte die Schultern und trat an ihm vorbei, um einen Blick auf die Südseite zu erlangen. Sie erschauderte. Es bedurfte keiner Kenntnis der Gegend, den weißen Wald zu erkennen, nicht einmal guter Augen. Schon jetzt standen vereinzelt Bäume nahe dem Ufer des Flusses, der hier langsam und ruhig verlief, sodass sich Vinja besser auf dem Schiff bewegen konnte. In der Ferne zeichnete sich bereits der unverkennbare Umriss eines Waldes ab.

Als Vinja die ersten Bäume besser erkennen konnte, wurden ihre Knie weich. Alles hier wirkte tot und kahl. Knorrige, alte Äste ragten in den Himmel. Sie waren überzogen von einer weißen Schicht, die fast aussah wie dünne Haut, welche an manchen Stellen aufgerissen war und den Blick freigab auf den darunterliegenden dunklen Stamm. Sie drehte sich zu Hawegen um, doch der lachte nur.

»Schön, nicht wahr? Die Leute haben eine seltsame Art, den Dingen Namen zu geben, was meinst du?«

Wieder lachte er.

»Weißer Wald, das klingt freundlich. Es bringt einen auf den Gedanken von schönen Bäumchen und kleinen Elfen.«

Er deutete auf den Wald, der trotz des Tageslichtes etwas Geisterhaftes hatte.

»Und jetzt so was.«

Hawegen blickte zu Vinja.

»Mach dich schon mal fertig, wir legen gleich an.«

Vinja schluckte. Sie holte ihr Bündel aus dem Lagerraum, überprüfte noch einmal, ob sie alles dabei hatte und ging wieder an Deck. Je näher sie dem Wald kamen, desto klarer wurde ihr, dass der Wald viel größer war, als es auf der Karte den Anschein erweckt hatte.

»Klar zum Anlegen«, brüllte Hawegen und kurz darauf steuerte das Schiff eine kleine Bucht mit erhöhter Böschung an. Es dauerte nicht lange, bis für Vinja eine Planke ausgelegt worden war, welche direkt zur Böschung hinaufführte. Hawegen stellte sich neben sie, als Vinja von Bord ging.

»Eine gute Reise dann noch, wo immer es auch hingehen mag!«, sagte er laut. »Und dass du mir brav nach Ijaria zurückkehrst, ich mache nicht gerne Sachen umsonst!«

Vinja nickte nur stumm. Als sie die Planke betrat, die unter ihr knarrte und wackelte, wurden ihre Beine weich. Für einen kurzen Moment flammte der Gedanke in ihr auf, es sich anders zu überlegen und Hawegen zu fragen, ob sie nicht einfach mit ihm mitfahren konnte. Aber das war natürlich Unsinn. Sie hatte es bis hierher geschafft und sie würde nicht umkehren. Auf halbem Weg blieb sie stehen, straffte sich und atmete einmal tief ein.

»Immer schön weitergehen, immer weiter!«, rief Hawegen hinter ihr her. Die Matrosen lachten.

Vinja atmete aus und ohne sich noch einmal umzudrehen, lief sie über die restliche Planke hinauf zur Böschung. Hier wuchs noch grünes Gras, zumindest ein paar Meter, dann begann ohne Vorwarnung der weiße Wald, kahl und trostlos. Hinter ihr wurde die Planke eingezogen und Vinja hörte, wie unter den Kommandos Hawegens das Schiff vom Ufer ablegte. Sie wandte sich um und blickte dem Segel nach, bis es weit in der Ferne verschwand. Dann drehte sie sich wieder zum Wald um. Ihr wurde mulmig und das wackelige Gefühl in den Beinen kehrte zurück. Jetzt ist es nicht mehr weit, dachte sie, aber der Gedanke machte viel weniger Mut, als sie sich erhofft hatte.

In der Nähe von Halwar hatte es kleinere Wäldchen gegeben, aber dort waren sie fast nie gewesen, nur manchmal hatten sie sich hineingewagt, als Mutprobe, oder um sich dicht am Rand zu verstecken. Damals hatte die Dunkelheit und das Rascheln in den Blättern Vinja einen angenehmen Schauder über den Rücken gejagt. Aber dieser Wald war anders. Er war hell und dunkel zugleich, denn, auch wenn sich das seltsame Weiß von den Stämmen auch über den Boden hin ausbreitete und keiner der Bäume Blätter zu tragen schien, so hielten doch die zahlreichen Äste das Sonnenlicht ab und machten es schwer, weit in den Wald hineinzuschauen. Jetzt fiel Vinja auf, wie still es hier war. Kein Vogel zwitscherte und kein Tier lief durchs Dickicht. Nur das Wasser rauschte leise und hin und wieder knarrte einer der Bäume, dessen dicker Stamm im kalten Wind ächzte. Vinja machte einen Schritt nach vorn und nun merkte sie, dass das, was sie für das Rauschen des Wassers gehalten hatte, nicht vom Wasser kam. Es kam aus dem Wald. Instinktiv zog sie ihren Mantel enger und sie musste sich zwingen, den nächsten Schritt zu machen. Das Rauschen wurde stärker. Vinjas Blick suchte ein letztes Mal nach Hawegens Schiff, aber es war außer Sichtweite.

Es gibt kein Zurück mehr, sagte sie sich. Als sie schon fast dachte, sie würde sich gar nicht mehr bewegen können und sie schon spürte, wie die Kälte ihrer Füße die Beine heraufkroch, machte sie plötzlich ein paar schnelle Schritte nach vorn. Dann hatte sie die Grenze überschritten.

Sie war im Wald.


Der Untergang Ijarias I - Die Schatten erheben sichWo Geschichten leben. Entdecke jetzt