VIII - Vinja (1/4)

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»Achtung, Aufseher! Hauptmann Klaff!«
Füße scharrten über den Boden. Das Gemurmel und Geflüster erstarb und im nächsten Moment war es still. Vinja straffte den Rücken wie die anderen um sie herum und richtete den Blick nach vorn. Sie standen in zehn Reihen nebeneinander und in jeder Reihe standen wiederum zehn Rekruten. Jeder Platz war festgelegt. Vinja stand in der 7. Reihe, Platz 9.
Es war kalt und grau. Ein Wind wehte eisig über den Platz und fuhr Vinja durch ihre Kleider und Knochen, auch wenn sie die Winteruniform trug, die man ihr gegeben hatte. Der Platz war karg und trostlos und war von hohen Mauern und der Rückseite der Kaserne eingegrenzt.
Ihre Sicht nach vorne war schlecht und sie sah Hauptmann Klaff nur durch den Platz zwischen den Reihen.
Hauptmann Klaff war ein großer, bulliger Mann, mit groben Gesichtszügen und kahlem Kopf. Nicht, weil er alt war, sondern weil er sich die Haare abrasieren ließ, jeden Tag, bevor er zu ihnen auf den Appellplatz kam. Vinja hasste ihn und sie hasste ihn, wie sie vieles hier hasste. Sie hasste den Appellplatz, sie hasste ihre Uniform, die Kaserne, das Essen oder besser gesagt einfach alles, was es hier gab, vielleicht von ein paar wenigen aus ihrer Reihe abgesehen.
»Meldung!«, brüllte Klaff, laut und streng.
»Fiomes Zehn bereit!«, rief Fiomes, der auf Position eins stand, vorn an der ersten Reihe.
»Lanos Zehn bereit!«
Hauptmann Klaff begann mit unzufriedenem und offen feindseligem Blick durch die Reihen zu gehen. Einen Moment war Vinjas Blick zur Seite gesprungen, doch sofort richtete sie ihn wieder nach vorne. Klaff duldete keinerlei Abweichungen, und wenn er sie entdeckte, dann würde es Konsequenzen geben, nicht nur für sie, sondern für ihren ganzen Trupp, mit dem sie in einer Reihe stand.
»Ekkels Zehn bereit!«
Das war Vinjas Reihe. Ekkel war ein Junge, etwas älter als Vinja und wenn er auch nicht besonders klug war, so mochte Vinja ihn doch. Er war stets freundlich zu Vinja, so wie er es zu allen aus seinem Trupp freundlich war.
Der Trupp teilte sich alles. Sie lebten in einem Zimmer zusammen, sie aßen zusammen, sie übten zusammen und sie standen zusammen in einer Reihe, wenn es Zeit für den Appell war.
Vinja glaubte nicht, dass Ekkel sie mochte. Er war einfach nett zu allen, aber das war schon mehr, als die meisten ihr an Freundlichkeit entgegenbrachten. Von ihrem Trupp abgesehen, gab es eigentlich niemanden, der sie mochte und viele, die sie nicht mochten oder ihr sogar offen feindselig gegenüberstanden. Es lag nicht daran, dass Vinja in irgendeiner Weise unfreundlich zu ihnen war, sondern daran, wie sie hierhergekommen war und vor allem daran, das wusste Vinja, dass sie besser war. Sie war schon besser als die meisten gewesen, als sie angekommen war und mit jedem Tag hatte sie weitere Fortschritte gemacht. Sie hatte festgestellt, dass sie nur wenig verlernt hatte, von dem, was Helgrin ihr beigebracht hatte und was den Nahkampf anging, nahm sie es mit allen Rekruten auf, selbst mit denen, die schon viel länger hier waren.
»Hauptmann Klaff?« Die Stimme einer Frau riss Vinja aus den Gedanken. Sie stand am Rande der Rekruten und trug Offizierskleidung. Vinja kannte sie zwar nicht, aber so viel hatte sie verstanden, dass sie in der Rangfolge über Klaff stehen musste. Klaff drehte sich um, beendete seinen Weg durch die Reihen, trat zu der Frau und salutierte.
»Was kann ich für Euch tun, Laeda Zola?«
»Die Heldenwacht im Süden«, antwortete Zola knapp. »Es gibt einen Ausfall in der Einheit von Hauptmann Osung. Ich wollte fragen, ob eine Zehn von Euch übernehmen kann.«
»Selbstverständlich.« Klaffs Stimme war unterwürfig und schleimig. Dies war einer der Gründe, warum Vinja ihn verachtete. Wenn er mit den Rekruten sprach, so spielte er sich auf und schien die helle Freude daran zu haben, sie zu demütigen und fertigzumachen. Gegenüber ranghöheren Soldaten war er ein schleimiger Kriecher.
Klaffs Blick glitt über die Reihen.
Bitte nicht, dachte Vinja. Sie ahnte bereits, worauf es hinauslaufen würde. Sie wusste nicht genau, was die Heldenwacht war, aber ähnliche Situationen wie diese waren schon vorgekommen. Klaff würde Ekkels Zehn auswählen, oder besser gesagt Vinjas Zehn, denn seit sie mit Helgrin zusammen die Kaserne aufgesucht und einen Platz in Ekkels Zehn bekommen hatte, wurde dieser eine Sonderbehandlung zuteil.
Für einen kurzen Moment flackerte eine Erinnerung in ihr auf, von dem ersten Tag, an dem sie mit Helgrin hergekommen war. Helgrins Auftauchen in der Ausbildungskaserne der einfachen Soldaten hatte sofort für Aufsehen gesorgt. Es hatte nicht lange gedauert, da war der Befehl von ganz oben bis nach ganz unten hindurchgegangen, dass Vinja einen Platz in der königlichen Armee bekommen sollte. Sie waren bei Klaff gelandet und Klaff hatte sich vor Helgrin wie eine Schlange gewunden. Seine Zehnen seien voll, hatte er gesagt, und er könne Vinja nicht aufnehmen. Eine Zehn sei nun einmal eine Zehn und keine Elf. Vinja hatte ihm ansehen können, wie schwer es ihm gefallen war, Helgrin zu widersprechen. Aber die Befehle waren eindeutig und so hatte er Vinja im Kampf gegen einen Jungen antreten lassen, Arion. Arion war kleiner als Vinja und im Kampf kein Gegner für sie gewesen. Als sie gewonnen hatte, hatte sie einen Platz in Klaffs Einheit bekommen und Arions Laufbahn in der königlichen Armee war zu Ende. Vinja hatte nicht gewusst, dass es um Arions Platz gegangen war und sie hatte nicht gewollt, dass er gehen musste, aber ihre Meinung hatte niemanden interessiert und interessierte auch bis heute niemanden. Viele nahmen es ihr übel, dass sie Arions Platz bekommen hatte und viele neideten es ihr, dass sie von jemanden aus der Königsgarde unterstützt wurde. Für die meisten war es ein harter Kampf, einen Platz in der Armee zu bekommen und niemand kam einfach so hinzu. Niemand, außer Vinja und die anderen ließen keine Gelegenheit aus, sie spüren zu lassen, dass sie es nicht guthießen.
Einmal nur hatte Vinja Helgrin getroffen, seit sie in der Kaserne angekommen war, aber Helgrin hatte kein Verständnis für Vinjas Nöte gezeigt.
»Warte ab«, hatte sie gesagt, »das gibt sich schon, spätestens, wenn du ihnen im Kampf den Hintern rettest.« Aber wann, fragte sich Vinja, sollte das sein?
In einem Punkt hatte Helgrin recht gehabt, vor langer Zeit, wie es ihr nun vorkam, als sie Helgrin auf deren Weg hinaus aus der Stadt getroffen hatte. Vinja hatte bisher keine Ahnung gehabt, wie groß die königliche Armee war und den tatsächlichen Überblick hatte sie immer noch nicht, aber eines wusste sie jetzt: Die Armee war groß, sie war riesig. Sie hätte ganze Städte füllen können. Und tatsächlich, die Kasernen und anderen Militärgebäude bildeten innerhalb Ijarias so etwas wie eine Stadt in der Stadt, in die man jedoch weder einfach hinein-, noch einfach hinausgehen konnte.
Helgrin hatte Klaff vor allen Augen angewiesen, sich anständig um Vinja zu kümmern, und Klaff tat es auch. Nicht, dass er Vinja freundlicher behandelte als andere, aber er bevorzugte die gesamte Zehn, immer, wenn es darum ging, etwas zu tun, was das Vorankommen innerhalb der Armee erleichterte. Und das Schlimmste daran war: Alle wussten es. Innerhalb von Ekkels Zehn freute man sich natürlich darüber, aber auch hier gab es den einen oder anderen, der nicht glücklich darüber war, in der gesamten Ausbildungseinheit in der unbeliebtesten Zehn zu sein. Ausnahmslos alle machten Vinja dafür verantwortlich, auch wenn sie sich niemals eine Sonderbehandlung gewünscht hatte.
Die Stimme von Hauptmann Klaff ließ sie in die Gegenwart zurückkehren.
»Ekkel, vortreten!«, brüllte Klaff. Wie befohlen, machte Ekkel einen Schritt nach vorn.
»Deine Zehn wird die Heldenwacht übernehmen. Sofort kehrt und abmarschbereit machen!«
»Jawohl, Hauptmann Klaff!« Ekkel salutierte und drehte sich um. Er grinste kurz, dann rief er: »Also los, zurück in die Unterkunft und fertig machen!«
Er lief an ihnen vorbei in Richtung Kaserne. Sie folgten ihm. Auch wenn die anderen weiter die Gesichter nach vorn gewandt hatten, spürte Vinja, wie die Umstehenden ihnen unzufriedene Blicke aus den Augenwinkeln zuwarfen.

Der Untergang Ijarias I - Die Schatten erheben sichWo Geschichten leben. Entdecke jetzt