Die Splitter und Scherben machten ein klirrendes und kratzendes Geräusch, als Vinja begann, sie zu einem Haufen zusammenzukehren. Immer wieder wanderte ihr Blick durch die klaffende Öffnung nach draußen. Das Fenster schien ihr mit einem Mal viel größer zu sein, als es zuvor gewesen war. Irgendwann eilte Belfonso an ihr vorbei und ging, ohne sich zu verabschieden, während Rigund begann, im hinteren Teil der Wäscherei ihrer Arbeit nachzugehen. Einmal sah Vinja Nicko, der seinen Kopf auf der gegenüberliegenden Straßenseite aus der Tür herausstreckte, doch kaum hatte Vinja den Blick gehoben und ihn angeschaut, zog er hastig seinen Kopf zurück und verschwand in der Bäckerei.
Du bist ein Feigling, dachte Vinja und Wut stieg in ihr auf. Einen Moment starrte sie auf die geschlossene Tür gegenüber, dann fegte sie weiter das zerbrochene Glas zusammen.
Der Glaser kam. Er maß die Größe des Fensters, kratzte sich am Kinn und machte sich Notizen.
»Eine so große Scheibe zu machen ist viel Arbeit«, sagte er. Belfonso stöhnte auf, ganz so, als ahnte er bereits, worauf das Gespräch hinauslaufen würde.
Als der Glaser ging, hatte Vinja dessen zufriedenes Grinsen sehen können. Er hatte Belfonso eine ganze Weile zappeln lassen und auch Rigund, die zu dem Gespräch dazustieß, hatte ihn nicht einschüchtern können. Vinja hatte nicht mitbekommen, wie teuer die neue Scheibe werden würde, aber es war ihr auch egal. Sie hatte verstanden, dass es nicht nur teuer war, sondern auch noch eine Weile dauern würde und das war viel schlimmer, denn so würde es kalt sein im Haus.
Trotz allem gingen Rigund und Belfonso ihren Geschäften nach, auch wenn der Ersatz der Scheibe viel kostspieliger war als angenommen. Das Ergebnis war allemal schlechter als zuvor. Die Scheibe war dunkel und schmutzig und ließ wenig Licht hindurch. Trotz des hohen Preises war es offensichtlich, dass es schlechte Qualität war.
Auch ein anderes Problem begann sich nach und nach negativ auf die Wäscherei auszuwirken. Belfonso kam eines Tages aufgebracht herein, nachdem er persönlich eine Lieferung zugestellt hatte und berichtete von Gerüchten, die die Runde machten. Gerüchte von Pferdedung in der Seife und ähnlichem und einem baldigen Ende der Wäscherei überhaupt.
Rigund und Belfonso versuchten sich nichts anmerken zu lassen, aber Vinja spürte, wie angespannt sie waren.
»Saisonale Schwankungen«, sagte Belfonso, als er und Rigund eines Abends zusammen die Geschäftsbücher durchgingen, aber Vinja wusste, dass das nicht stimmte. Sicher, im Herbst und Winter kamen immer weniger Kunden als im Sommer, das war auch in Halwar schon so gewesen, aber ein Blick in das blasse Gesicht Belfonsos und der grimmige Ausdruck in Rigunds Augen vermittelten ihr einen guten Eindruck davon, wie es tatsächlich um sie bestellt war.
Sie selbst sagte dazu nichts. Ihre Eltern fragten sie nicht nach ihrer Meinung und Vinja brauchte es nicht erst zu versuchen, um herauszufinden, dass ihre Eltern sich nicht für ihre Meinung interessierten. Wenn sie sie gefragt hätten, dann hätte Vinja vorgeschlagen, ins Gleißnerviertel umzuziehen, ein Vorschlag, von dem sie wusste, dass er für ihre Eltern völlig absurd klingen musste. Aber Vinjas Ansicht über das Viertel hatte sich geändert, nachdem sie einige Male bei Masia und Eleane gewesen war. Sicher, es gab einige dunkle Ecken im Viertel, aber im Lichterviertel gefiel es Vinja längst viel weniger als in die dunklen und engen Gassen und Straßen rund um den Tuchladen. Leider war der Bedarf an Leinen und Präsentierstoffen, an welchen Belfonso und Rigund ihre Arbeit zu zeigen pflegten, nicht gerade gewachsen und so waren die Besuche dort seltene Lichtblicke. Der letzte lag bereits eine ganze Weile zurück und nur die schlechte Verfassung ihrer Eltern und die finanzielle Situation der Wäscherei hielten Vinja davon ab, irgendeinen Stoff in eine dunkle Ecke im Keller zu werfen, um einen Grund zu haben, neuen kaufen zu müssen.
Fast wünschte sich Vinja die betriebsamen Tage zurück, in welchen Rigund sie den ganzen Tag durch die Gegend gescheucht hatte, denn jetzt stand sie oft einfach im Verkaufsraum hinter dem Tresen und wartete auf Kundschaft, die nicht kam. Auch ihre eigene Laune verschlechterte sich zusehends, denn immer öfter ließen ihre Eltern den angesammelten Ärger und ihre Sorgen an Vinja aus, schimpften sie für Kleinigkeiten an oder gaben ihr Schuld an Dingen, mit denen sie gar nichts zu tun hatte. War ein Kunde nicht zufrieden, so war es ihre unfreundliche Art, ging jemand, ohne etwas in Auftrag zu geben, hatte sie sich nicht genug angestrengt. Vinja war sich nicht sicher, aber sie hatte den Eindruck, ihre Eltern sparten an den Zutaten, denn einige der Pakete, die sie herausgab, verströmten nur noch schwach den angenehmen und geheimnisvollen Duft der Hausseife und manche rochen schlicht nach gar nichts. Dass sie sich nicht irrte, sah sie an den enttäuschten Gesichtern ihrer Kunden und manche von ihnen kehrten nicht wieder.
Einmal noch tauchte jemand von der Gilde bei ihnen auf. Es war jener Mann, der bereits beim ersten Besuch der Gilde da gewesen war und wieder trug er seinen dunkelblauen Mantel und den eigentümlichen eckigen Hut, bei dem sich Vinja schon beim ersten Besuch gefragt hatte, ob der Mann ihn wohl trug, weil er ihn schön fand. Auf Vinja wirkte er einfach nur lächerlich. Weniger lächerlich waren die zwei finsteren Gestalten, groß und breit, die mit ihm gekommen waren und deren Umrisse sich dunkel vor der schwer zu durchschauenden neuen Scheibe abgezeichnet hatten. Der Mann indes war ohne Umschweife zur Sache gekommen. Er habe gehört, die Geschäfte liefen nicht gut, und ob Rigund und Belfonso sich nicht noch einmal überlegt hätten, der Gilde beizutreten. Das Angebot wäre noch nicht erloschen. Die Gildenversammlung sei zwar dagegen gewesen, aber als Gildenmeister hätte er sich persönlich entschieden, noch einmal vorbeizukommen. Er hatte sich keine Mühe gegeben, seine Genugtuung über die Situation zu verbergen. Der Klang seiner Stimme, sein hämisches Grinsen während er sprach, all das hatte Vinja deutlich gemacht, dass er die Situation genoss. Als Rigund ihm unmissverständlich klar gemacht hatte, dass sie ihm den Topf über den Schädel ziehen würde, den sie gerade in der Hand hielt, wenn er nicht sofort den Laden verlassen würde, hatte er sich umgedreht und war gegangen.
»Nur eine Frage der Zeit, nur eine Frage der Zeit«, hatte er beim Hinausgehen vor sich hin gemurmelt, gerade laut genug, dass sie alle drei es hatten hören können. Zwar hatten ihre Eltern sich mit weiteren Durchhalteparolen bestärkt, aber Vinja ging davon aus, dass er recht hatte. Die Männer, die vor der Wäscherei gewartet hatten, waren noch eine Weile stehen geblieben und Vinja war den Eindruck nicht losgeworden, dass diese sie durch die Scheibe hindurch angestarrt hatten. Seit diesem Besuch hasste sie es, im Verkaufsraum der Wäscherei zu stehen und je mehr sie es hasste, desto häufiger schienen ihre Eltern ihr genau diese Aufgabe zu überlassen. Vinja war nervös, immer wenn sie hinter der Theke stand und besonders, wenn jemand an der Wäscherei vorbeiging.
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Der Untergang Ijarias I - Die Schatten erheben sich
FantasíaEntdecke den Untergang Ijarias - Ein episches Abenteuer voller Mut, Magie und Freundschaft! Ein dunkler Schatten zieht auf über Ijaria, der prachtvollen Hauptstadt des Freien Reiches, und das Schicksal von drei jungen Helden steht auf dem Spiel. Eln...