Elno schwang sich von Miros Rücken und machte ein paar wackelige Schritte nach vorn.
»Gut gemacht!«
Igrimma musterte ihn anerkennend. Elno schnaufte vor Anstrengung, doch er lächelte. Er wusste, dass er es tatsächlich gut gemacht hatte, auch wenn es ihn viel Kraft und Konzentration gekostet hatte. Miro hinter ihm fauchte kehlig und schüttelte sich. Es war, als hätten sie in der Luft einen Kampf ausgetragen und Elno wusste, dass er ihn gewonnen hatte, denn nach einigem Hin und Her hatte er es geschafft, die drei großen Türme Ketenas zu umfliegen, und zwar genau in der Reihenfolge und Richtung, welche Igrimma vorgegeben hatte. Elno war mit dem Ergebnis zufrieden, aber gleichzeitig machten sich Zweifel in ihm breit, denn er hatte Miro seinen Willen aufzwingen müssen, und der Kampf gegen Miros Willen hatte ihm überhaupt nicht gefallen. Auch Miro schien von der Auseinandersetzung ermüdet, doch als er Elnos Blick erwiderte, lag keine Abneigung darin. Wie sooft hatte Elno vielmehr den Eindruck, Miro würde ihn angrinsen oder auf eine ihm undurchschaubare Art über ihn lachen.
Erleichtert atmete Elno auf. Vielleicht, dachte er, würde es beim nächsten Mal besser funktionieren.
Es war das dritte Mal, dass sie flogen, seit Finiel Elno offenbart hatte, dass sie seine alte Hütte gefunden hatte. Er trug die Position nun auf seiner Karte markiert immer bei sich und der Ärger, den er gegenüber Finiel empfunden hatte, war verflogen. Er verstand, dass Finiel es ernst gemeint hatte, als sie ihm gesagt hatte, dass sie seine Schwester holen würden und mit dem Auffinden der Hütte war der erste Schritt getan. Dass Finiel sie tatsächlich gefunden hatte, war für Elno so gut wie sicher. Ihre Beschreibung der Hütte und des einsamen Ackers, der sie umgab, ließ vielleicht noch einigen Zweifel zu, denn Hütten gab es sicher mehr als eine. Aber Finiel hatte auch einen Mann gesehen, groß und breit, mit dunklem Haar und zotteligem Bart. Elno war sich sicher, dass es sich dabei nur um einen gehandelt haben konnte: um Bolg. Ein Schauer war ihm über den Rücken gelaufen. Finiel hingegen schien wenig beeindruckt und war weiterhin entschlossen, ihm zu helfen. Und Elno glaubte ihr.
Sie würden zur Hütte fliegen, sobald es ging und dann würden sie Nela mitnehmen. Sie würden es zu zweit tun und vorher niemandem etwas davon sagen. Elno bezweifelte, dass jemand wie Manaron oder Estelion ihr Vorhaben gutheißen würde, doch wenn Nela erst einmal hier war, dann würden sie sie nicht zurückschicken können. Und wenn doch... Nun, dann würde man weitersehen. Erst einmal musste sie hierher, fort aus der alten Hütte und dafür, dies war Elno klar, musste er stärker werden.
In allen Bereichen, ausgenommen vielleicht in seinen magischen Studien, arbeitete er nun mit doppelter Kraft daran, sich zu verbessern. Er übte sich im Kartenlesen und darin, Entfernungen richtig zu bestimmen. Wenn er bei Gimla etwas nicht verstand, so ließ er es sich von Gitto oder von Finiel erklären, bis er wusste, was sie gemeint hatte. Gitto freute sich über Elnos Interesse und wurde niemals müde, ihm immer wieder aufs Neue zu erklären, wie er Karten zu lesen hatte. Manchmal saß Elno abends über der Karte, die Finiel ihm gezeichnet hatte, und maß immer wieder die Entfernung zu seinem alten Zuhause. Zwei Drachenstrecken, vielleicht zweieinhalb, wiederholte er dann immer wieder. Drachenstrecken, so hatte er es gelernt, war die Entfernung, die man mit einem Drachen an einem Tag zurücklegen konnte, Pausen mit eingerechnet. Zwei Tage hin, zwei zurück, wenn alles gut ging.
Im Kampftraining übte er ohne Rücksicht auf Rückschläge und Schmerzen. Er war sich sicher, dass Bolg Nela nicht einfach so würde gehen lassen und er stellte sich darauf ein, dass es einen Kampf geben würde. Roderic, der nun wieder mit ihm zusammen übte, war überrascht über Elnos neuen Kampfgeist. Einige Male gelang es Elno jetzt sogar, Roderics Angriffe zu kontern und Roderic seinerseits in Bedrängnis zu bringen. Tenolia, die weiterhin regelmäßig seine Fortschritte kontrollierte, verließ sie des Öfteren schweigend und das Ausbleiben von Kritik wertete Elno als Zeichen der Anerkennung.
Der wichtigste Punkt schien ihm jedoch zu sein, dass er auf dem Rückflug seine Schwester Nela mit auf Miro haben würde. Er hatte Finiel danach gefragt, doch sie hatte nur die Achseln gezuckt.
»Ich denke schon, dass es geht. Hin und wieder reisen ja auch Leute, die keine Drachenreiter sind und die müssen ja auch vom Berg herunterkommen. Ich selbst habe es aber noch nie ausprobiert«, hatte sie ihm gesagt. »Frag doch mal Igrimma!«
Das hatte Elno getan, doch Meisterin Igrimma hatte nur gelacht.
»Konzentriere dich erst einmal darauf, dass du alleine auf deinem Drachen zurechtkommst!«, war ihre Antwort gewesen und damit schien die Sache für sie erledigt.
Das hatte Elno an den Rand der Verzweiflung gebracht, denn so verschob sich der Zeitpunkt, zu welchem er Nela holen konnte, in weite Ferne und er fragte sich, ob er es jemals schaffen würde.
Gedankenverloren strich er Miro durchs Fell, als ihn die Stimme Igrimmas wieder in die Gegenwart zurückholte.
»Als Nächstes werden wir eine Übung in Geschwindigkeit machen. Wir fliegen gemeinsam ein Stück den Berg hinunter. Von dort aus werdet ihr, so schnell es geht, eine Runde um ganz Athea fliegen. Und denkt nicht einmal dran zu schummeln!«, fügte sie streng hinzu, als ein leises Tuscheln unter den Jungreitern losging, »Ich werde hinter euch herfliegen! Und los geht's!«
Sie schwang sich auf ihren grauen Drachen, der größer war als die meisten Drachen, die Elno bisher gesehen hatte. Die Jungreiter folgten ihrem Beispiel und Elno tat es ihnen gleich. Er war erschöpft von den bisherigen Übungen. Den anderen mochten sie leicht gefallen sein, aber für ihn war es ein Kampf gewesen und er hatte keine Lust auf ein Wettrennen. Er entschied, dass es reichen würde, die Runde einfach zu fliegen, so gut es ging und nicht zu versuchen, mit den anderen zu konkurrieren.
Sie flogen los. Miros Bewegungen waren ruhig und entspannt, doch Elno wusste, dass das nicht immer etwas zu bedeuten hatte. Miros Launen und Absichten konnten sich von jetzt auf gleich ändern und er hatte sich daran gewöhnt, in seiner Konzentration niemals nachzulassen, wenn er im Sattel saß. Als sie sich ein wenig unterhalb der Stadt befanden, gab Igrimma ihnen ein Handzeichen und brachte ihren Drachen in der Luft zum Halten. Elno legte beruhigend die Hand auf Miros Hals. In ähnlichen Situationen hatte Miro sich bereits einige Male dagegen entschieden, haltzumachen und war mit Elno einfach weitergeflogen, hatte die anderen umkreist oder anderen Unsinn getrieben. Doch diesmal blieb er ruhig und gesellte sich zu den anderen Drachen, die mit wellenförmigen Bewegungen auf der Stelle blieben. Igrimma warf einen Blick in die Runde und nickte Elno anerkennend zu, als ihr Blick ihn streifte. Dann flog sie ein Stück weiter nach oben.
»Achtung!«, rief sie laut und Elno sah, wie sich die anderen für den Wettflug bereit machten.
»Und los!«
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Der Untergang Ijarias I - Die Schatten erheben sich
FantasyEntdecke den Untergang Ijarias - Ein episches Abenteuer voller Mut, Magie und Freundschaft! Ein dunkler Schatten zieht auf über Ijaria, der prachtvollen Hauptstadt des Freien Reiches, und das Schicksal von drei jungen Helden steht auf dem Spiel. Eln...