IV - Vinja (1/6)

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Alles bleibt gleich, dachte Vinja, während sie mit einem sorgfältig verpackten Bündel unter dem Arm die Hauptstraße hinunterging.

Seit sie sich auf dem Dachboden ausgeweint hatte, fühlte sich ihr Kopf seltsam leer an und auf ihre Wut war Resignation gefolgt. Ihr war klar geworden, dass sie sich mit ihrem Leben so abfinden musste, wie es war und das sich daran in nächster Zeit nichts ändern würde. Egal, was die Frau der Königsgarde gesagt hatte, sie war als Tochter von Wäschern gekommen und würde es bleiben.

Trotz allem geisterte die Begegnung mit ihr zwischendurch noch in ihren Gedanken herum. Nicko, der dicke Bäckerjunge, hatte sie mit großen Augen angeschaut, als sie ihm erzählt hatte, dass sie an die Kasernentür geklopft hatte.

»Ich dachte, das sei verboten. Ich hätte mich das nie getraut«, gestand er ihr freimütig. Sie hatten am Abend zusammen vor der Bäckerei gesessen, nachdem Nicko die Brotreste des Tages verkauft hatte. Eine große Brezel war übrig geblieben, die sie sich geteilt hatten. Nicko hatte ihr einige Geschichten über die Königsgarde erzählt und Vinja war sich nicht sicher, was davon erfunden war oder was der Wahrheit entsprach.

»Die Rüstungen der Garde sind so schwer, ein einzelner Mensch kann sie nicht hochheben. Und sie können damit sogar laufen, schneller als die meisten ohne Rüstung. Ein Soldat der Königsgarde kann 100 gewöhnliche Soldaten aufwiegen.«

Dann hatte er sich umgeschaut, um sich zu versichern, dass ihnen niemand zuhörte und geflüstert: »Ich habe gehört, sie können sogar zaubern.«

Vinja hatte gehört, dass es Menschen geben sollte, die zaubern konnten, aber gesehen hatte sie es noch nie, außer bei den fahrenden Gauklern, die hin und wieder in Halwar Station gemacht hatten. Deren Zauberei basierte auf Tricks, wie sie wusste. Sie hatte Nicko kritisch angeschaut und der hatte die Schultern gezuckt, ganz so, als glaube er selbst nicht daran.

»Hab ich gehört.«

Ihre Eltern hatten sie den ersten Tag nach ihrem Wutausbruch in Ruhe gelassen und kaum ein Wort mit ihr gewechselt, doch schon am darauf folgenden Tag hatten sie ihr wieder einige Aufgaben gegeben. Vinja hatte auf dem Markt einkaufen müssen und während ihre Eltern sich der Seifenherstellung widmeten, musste sie vorne an der Theke stehen und auf Kunden warten. Tatsächlich kamen die ersten Interessenten schon am zweiten Tag, nachdem Vinja die Zettel verteilt hatte. Vinja erkannte einen der Bediensteten, dem sie eine der Schriften überreicht hatte. Auch hier im Laden behandelte er sie von oben herab und es schien, als gäbe er nur unwillig das Kleid seiner Herrin ab, auf welchem sich einige dunkle Flecken fanden.

»Ich erwarte Diskretion«, hatte er gesagt und Vinja hatte genickt, ohne zu wissen, worauf er anspielte.

Eben jenes Kleid trug sie nun frisch gewaschen in einem Paket unter ihrem Arm. Ihr Vater hatte sie losgeschickt, um es persönlich auszuliefern. Es handelte sich um einen wichtigen Kunden, wie er ihr erklärt hatte, kaum dass der Diener die Wäscherei wieder verlassen hatte.

»Das war ein Diener der Morgells!«, hatte er ausgerufen, »wenn wir die als Stammkunden gewinnen, dann haben wir sie alle! Im Adel spielen sie eine wichtige Rolle, wir müssen ihnen gefallen, Vinja!«

Ohne Widerrede hatte Vinja am nächsten Tag die Aufgabe übernommen, das frisch gewaschene Kleid bei den Morgells vorbeizubringen, auch wenn sie keine Lust hatte, erneut Bekanntschaft mit dem arroganten Diener zu machen. Doch Widerworte hätten nichts genutzt und so ersparte sich Vinja eine weitere Auseinandersetzung mit ihren Eltern. Das Paket verströmte den angenehmen Geruch der von Rigund und Belfonso selbst hergestellten Seife, dessen Rezept die beiden hüteten wie ihre Augäpfel. Selbst Vinja kannte es nicht. Sie durfte zwar die Zutaten auf dem Markt einkaufen, doch einen Teil des Fertigungsprozesses hielten die beiden geheim, selbst vor ihr.

»Eines Tages, wenn du die Wäscherei übernimmst, werde ich dir zeigen, wie sie gemacht wird!«, hatte ihr Vater einmal feierlich gesagt. Als Vinja jetzt daran denken musste, seufzte sie und das Paket fühlte sich mit einem Mal schwerer an, als es war. Der Tag, an welchem ihre Eltern ihr das Familiengeheimnis der Seifenherstellung übergaben, würde hoffentlich noch eine Weile auf sich warten lassen.

Die meisten Kunden, die ihre Wäsche bei ihnen waschen ließen, mochten den Geruch der eigens hergestellten Seife, auch wenn Belfonso und Rigund unterschiedlich viel von ihr dazugaben, je nachdem, wie zahlungskräftig der Kunde war. Bei dem Kleid, das Vinja unter dem Arm trug, hatten sie auf jeden Fall nicht gespart.

Ihr Vater hatte das Anwesen der Morgells auf der Karte markiert und Vinja wunderte sich, wie viel er doch über Ijaria wusste. Sie war beeindruckt, wie sehr er die Zeit genutzt haben musste, die er hier gewesen war, um den Aufbau ihres Geschäftes zu planen.

Es war der erste Tag in Ijaria, an welchem Wolken den Himmel bedeckten und die Luft war warm und drückend. Vinja hatte sich ein luftiges Hemd angezogen und eine ebenso luftige Hose aus leichtem Stoff. Trotz allem war ihr heiß und der Weg war anstrengender als unter der brennenden Sonne der vergangenen Tage. Sie war erschöpft, als sie das Adelsviertel erreichte.

Selbst hier, wo alle Gebäude groß und prunkvoll waren, hob sich das Haus der Morgells von den anderen ab. Von der Straße führte ein Weg durch einen gepflegten Garten, der sich um das Haus herum bis auf die Rückseite erstreckte. Der Weg war aus kleinen Steinen gepflastert, die verschiedene Formen bildeten.

Aber auch trotz der geschwungenen Säulen, die am Eingangsportal standen, und den zahlreichen Mosaiken, gefiel das Haus Vinja nicht. Es wirkte klobig, ähnlich wie die Kaserne der Königsgarde und machte einen ungastlichen Eindruck. Erst nach einem kurzen Zögern machte sich Vinja daran, über den Weg durch den Garten und die Treppe hinaufzulaufen.

Auf der letzten Stufe angekommen, war Vinja ein wenig außer Atem. Sie wartete noch einen Moment, damit sie nicht völlig erschöpft wirkte, dann nahm sie den Klopfer zur Hand. Es war ein Metallring, der im Maul eines Ebers steckte.

Beim metallischen Klang der Schläge, die im Innern des Hauses widerhallten, lief ihr ein Schauer über den Rücken.

Es dauerte nicht lange und ein Mann öffnete die Tür. Es war der Diener, der das Kleid in der Wäscherei vorbeigebracht hatte. Er wirkte überrascht, sie zu sehen und schien einen Moment zu brauchen, um sie in Gedanken richtig einzusortieren.

»Ja?«, fragte er in gezwungen höflichem Ton.

Vinja hielt das Paket hoch.

»Ich komme von der Wäscherei Rigund und Belfonso und bringe das Kleid für Laeda Morgell.«

»Ah!«, sagte der Mann und nahm Vinja das Paket aus den Händen, »Danke.«

Er hatte sich umgedreht und wollte gerade die Tür wieder schließen, als aus dem Haus eine hohe und träge Stimme erklang.

»Wer ist denn da?«

»Die Wäscherstochter, sie bringt das Kleid Ihrer Mutter, Siero«, rief der Diener.

Es entstand eine kurze Pause, dann antwortete die Stimme in gelangweilten Tonfall: »Bitte sie herein.«

Der Mann drehte sich wieder zu Vinja.

»Der junge Siero wünscht dich zu sehen. Wenn du mir bitte folgen würdest!«

Mit diesen Worten drehte er sich um und ging zurück ins Haus, ohne auf eine Antwort Vinjas zu warten. Vinja zögerte. Die Stimme war ihr auf Anhieb unsympathisch und sie hatte keine Lust, das Haus zu betreten. Sie kannte hier niemanden, vom arroganten Diener einmal abgesehen. Doch dann dachte sie an die Worte ihres Vaters über die Bedeutung der Morgells für ihr Geschäft. Sicher würde er es missbilligen, wenn sie jetzt einfach kehrtmachen würde. Sie warf einen Blick über die Schulter auf die Straße, die leer und verlassen in fahles Licht getaucht war, dann folgte sie dem Diener ins Haus.

Der Untergang Ijarias I - Die Schatten erheben sichWo Geschichten leben. Entdecke jetzt