Jorian starrte ihr hinterher, das Gefühl des Kusses immer noch auf den Lippen. Mit einem Mal fühlte er sich viel weniger betrunken, auch wenn seine Gedanken kaum klarer geworden waren. Ein ihm unbekanntes Gefühl breitete sich in ihm aus, heiß und angenehm. Es schien die anderen Gefühle zurückzudrängen und als es ihn mit einem Mal ganz ausfüllte, musste er tief ein- und ausatmen. Einen Moment lang fühlte er sich wunderbar, dann ebbte das Gefühl ab, und Fragen drängten sich in sein Bewusstsein. Was würden ihre Eltern dazu sagen, wenn sie es herausfanden? Was Prinz Aik? Die Königin? Er sah sich um. Hatte sie jemand beobachtet? Doch der Gang lag still und verlassen da. Nur die Rüstung leistete ihm Gesellschaft, stumm und unbewegt. Ein kalter Schauer lief ihm den Rücken hinunter. Er wollte weg von hier. Einen Moment blitzte der Gedanke in ihm auf, Nikia hinterherzulaufen, doch entschied er sich dagegen, wandte sich um und schleppte sich weiter den Gang entlang.
Nach einer weiteren Biegung und einer Gangkreuzung, die er überquerte, war er sich sicher, falsch zu sein und nicht zu wissen, wo er war. Als er zu der Gangkreuzung zurückkehrte, konnte er nicht einmal mehr sagen, ob er den Gang überquert hatte, oder ob er aus einem der Gänge abgebogen war. Ratlos blieb er stehen. Als er aus einem der Gänge den Schein einer Lampe sah und Stimmen hörte, die langsam näher kamen, blickte er versuchsweise hinein. Eine Gruppe kam auf ihn zu, anscheinend in bester Laune.
»Guten Abend!«, grüßte ihn der Erste, der ihn erreichte und grinste dann, »Oder besser: Gute Nacht! Ihr solltet schlafen gehen, so wie Ihr ausseht!«
Ein paar andere lachten und gingen weiter. Jorian wollte gerade fragen, ob ihm jemand den Weg weisen könnte, als einer der Männer stehen blieb und ihn im Schein seiner Lampe freundlich ansah. Es war der Querflötenspieler.
»Hallo«, sagte er und musterte Jorian belustigt. »Verlaufen?«
Jorian nickte.
»Ich... «, begann er und bemühte sich einen festen Klang in die Stimme zu bekommen, »ich muss zum Gästequartier.«
Der Mann nickte. »Da bist du hier aber falsch, hier geht es zu den Schlafräumen der Bediensteten.«
Jorian sah sich hilflos um.
Der Mann lächelte.
»Ich kann dich ein Stück bringen. Dann aber da lang.« Er wies auf einen der Gänge und hielt die Lampe hoch.
»Danke«, sagte Jorian und gab sich Mühe, neben dem Mann herzulaufen.
»Ich heiße Jorian«, brachte er nach einer Weile hervor.
Der Mann nickte.
»Freut mich. Ich bin Tore.«
Sie liefen weiter, dann war Tore es, der das Schweigen brach.
»Wie hat dir die Aufführung gefallen?«
Jorian antwortete nicht direkt. Welche Aufführung meinte Tore? Meinte er seine eigene oder meinte er die des Prinzen? Er entschied sich für ersteres, doch auch damit fiel ihm die Antwort schwer. Ein einfaches »Ja« schien ihm nicht angemessen, aber für mehr war er nicht mehr imstande.
»Sehr gut«, nuschelte er nach einer Weile einfach. Tore lachte leise, aber freundlich.
»So«, sagte er, nachdem sie in einen weiteren Gang eingebogen waren. »Hier sind die Gästequartiere. Wo dein Zimmer ist, musst du allerdings selbst herausfinden.«
Jorian sah Tore an. Ihm schwirrte der Kopf. Er wollte sich ordentlich bedanken, aber seine Gedanken mischten sich unsinnig durcheinander. Er erinnerte sich, dass Tore ihm nun zum zweiten Mal half, sich hier zurechtzufinden, obwohl er doch gar nicht von hier zu kommen schien.
»Ihr kennt Euch gut im Schloss aus«, sagte er deswegen mit einem Mal.
Tore lächelte.
»Du bist ein guter Beobachter, Jorian«, gab er zur Antwort. Vielleicht hätte er unter anderen Umständen etwas Seltsames an dieser Antwort gefunden. Er verweilte kurz bei diesem Gedanken, doch dann schwamm er zusammen mit einer Reihe anderer Bilder davon.
»Vielen Dank«, sagte er und hob die Hand zum Abschied. Tore nickte ihm zu.
»Gute Nacht«, sagte er, wandte sich um, und ging davon. Jorian blieb allein zurück und begann mühsam, den Gang nach seiner Zimmertür abzusuchen. Zu seinem Glück war die erste Tür, die er öffnete, die richtige. Er warf sie hinter sich krachend ins Schloss, zog sich im Laufen die Schuhe aus und ließ sich aufs Bett fallen.
Verschiedene Bilder des Abends strömten auf ihn ein. Nikias Kuss. Das Gespräch mit ihrem Vater. Ihre Mutter. Das Fest. die Aufführung des Prinzen. die Musik. Die beiden Bilder verschwammen in eins und Jorian sah den Prinzen zum Klang der Musik. Irgendetwas stimmte nicht, ging es ihm durch den Kopf und ein Gedanke, den er schon während der Aufführung gehabt hatte, kehrte zurück. Irgendetwas war seltsam gewesen. In Gedanken lauschte er noch einmal der klaren Melodie der Querflöte.
Und dann, ganz plötzlich, wusste er, was ihm an der Aufführung seltsam vorkam. Es war, wie der Prinz sich bewegt hatte. Die Bewegungen hatten nichts mit dem gemein, was Jorian in dem Buch »Deho Magyr« gesehen hatte und erst recht nichts damit, wie er selbst zuletzt hatte Magie anwenden können. Überhaupt, auch wenn er kaum etwas über die Magie wusste, so war ihm doch klar geworden, dass die Bewegungen mit fortschreitender Übung weniger wichtig geworden waren. Noch einmal holte er die Bilder des Prinzen hervor. Waren seine Erinnerungen richtig oder irrte er sich? Wenn er darüber nachdachte, hatte er den Eindruck schon bei der Vorführung selbst gehabt, ohne ihn jedoch wirklich in Worte fassen zu können. Jetzt konnte er es. Die Bewegungen des Prinzen passten überhaupt nicht zu dem, was er machte. Sie hatten auf Jorian gewirkt, als ob sie in gar keinem tatsächlichen Bezug zur Zauberei gestanden hatten. Für einen kurzen Moment, bevor er einschlief und ein Strudel ihn hinabriss in ein Reich aus dunklen und unheilvollen Träumen, traten Gedanken isoliert und klar in sein Bewusstsein. Der Prinz hatte nicht gezaubert. Jemand anderes hatte es für ihn getan. Der Prinz von Ijaria, Sohn des mächtigen Königs Agreon Rasgalian, konnte nicht zaubern.
Prinz Aik konnte nicht zaubern.
![](https://img.wattpad.com/cover/351273895-288-k879140.jpg)
DU LIEST GERADE
Der Untergang Ijarias I - Die Schatten erheben sich
FantasiEntdecke den Untergang Ijarias - Ein episches Abenteuer voller Mut, Magie und Freundschaft! Ein dunkler Schatten zieht auf über Ijaria, der prachtvollen Hauptstadt des Freien Reiches, und das Schicksal von drei jungen Helden steht auf dem Spiel. Eln...