Kapitel 52 - Schuld

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Allyssa

Es mussten Stunden gewesen sein.

Stunden, in denen ich auf dem Boden kauerte und mit weit aufgerissenen Augen auf ein Steinchen vor mir starrte. Aber ich sah den Stein nicht. Ich sah ständig den grünen Lichtblitz und das Mädchen, dass leblos auf den Boden fiel. Immer und immer wieder wiederholte es sich in meinem Kopf. Das Blut rauschte mir in den Ohren. Es war das einzige was ich hörte.

Irgendwann fing es an zu regnen. Dicke, schwere Tropfen fielen auf mich nieder und durchnässten mich, ohne dass ich es merkte.

Als es schon vollkommen dunkel war stand ich schließlich auf und ging zum Schloss hinauf.

Es fühlte sich an, als würde ich gegen eine Wand rennen, als ich den Gemeinschaftsraum betrat. Die Hitze darin stach mir in die Haut. Jetzt merkte ich erst wie unterkühlt ich eigentlich war.

„Lyssa", hauchte Daphne die von der grünen Couch aufgesprungen war und jetzt mit offenem Mund vor mir stand. „Was ist passiert?" Tränen bildeten sich in ihren Augen.

„Nichts", wollte ich flüstern aber ich brachte nur ein heiseres Krächzen heraus. Mit matten Augen und hängenden Schultern lief ich zum Sofa und starrte ins Feuer.

Einen Augenblick später setzte sich Daphne zu mir. Ein Stück von mir weg, vorne auf die Kante des Sofas. Sie faltete ihre Hände im Schoß, starrte genauso wie ich in die Flammen. Dann schluckte sie einmal fest. „Erzähls mir."

„Ich hab jemanden umgebracht." Ich schloss die Augen und versuchte ruhig zu atmen. „Ein Mädchen."

Daphne drehte ihren Kopf zu mir, sagte nichts.

„Voldemort hat uns vorgeschrieben wo wir unseren Auftrag erledigen müssen. Es war ein kleines Häuschen. Eine Familie lebte dort. Eine Frau, mit längeren dunkelbraunen Haaren. Ein Mann mit schwarzen Haaren. Ein Mädchen, vielleicht 14, mit eisblauen Augen und braunen, langen Haaren. Und ein Mädchen, nicht älter wie 10, mit langen schwarzen Haaren und grün-grauen Augen."

Daphnes Hand wanderte zu ihrem Mund, der zu einem stummen Schrei offen war. Ihre Augen verzogen sich panisch und Tränen liefen ihr über die Wangen.

„Er hat das extra gemacht", wisperte ich und knetete fest meine Finger. „Ich hab gesehen wie sie gestorben sind. Einer nach dem anderen. Erst der Mann. Dann das Mädchen mit den blauen Augen. Dann die Frau. Und als Avery dann das kleine Mädchen umbringen wollte, haben wir von oben Geräusche gehört und er ist verschwunden. Und dann..." Ich zitterte am ganzen Körper, Tränen brannten mir in den Augen. Schluchzend atmete ich ein und aus. „Ich hab sie umgebracht."

Daphne wimmerte etwas, was ich nicht verstand. Dann griff sie nach meiner rechten Hand und umschloss sie mit ihren Fingern. „Warum?", fragte sie mich.

Ich sah ihr in die schönen blauen Augen. „Weil ich egoistisch bin." Ich lachte hysterisch auf, nur um kurz darauf meine Hand aus Daphnes Griff zu entziehen und wie wild mit meinen Fingernägeln auf meinen Handrücken einhämmerte. Kurze Zeit später drang Blut aus Kratzern und kleine bläuliche Flecken bildeten sich. „Sie hat mich an mich selbst erinnert. Als Rose gestorben ist, hab ich mir nur eins gewünscht... dass die Männer zurückkommen und auch mich umbringen. Und heute hab ich aus diesem Erlebnis heraus gehandelt. Ich hab einfach so über ihr Leben entschieden. Ich bin ein Monster."

Daphne drehte sich weg von mir, legte ihren Kopf auf die angezogenen Knie und schloss die Augen. Es gab mir einen Stich in die Brust. Ich hatte immer Angst gehabt, dass Draco und Daphne sich von mir abwenden würden, wegen der Aufträge. Und jetzt war es soweit. Jetzt hatte ich alles verdorben.

Ich stand auf und ging schweigend an Daphne vorbei, Richtung Wendeltreppe.

„Vielleicht hast du das Richtige getan."

Ich blieb abrupt stehen und drehte mich zu meiner besten Freundin um. Hatte ich mich verhört?!

Sie hob ihren Kopf und ich sah ihre roten Augen. Rot vom vielen weinen in letzter Zeit. Rot, weil sie nicht mehr schlief.

„Was hätte das Mädchen noch gehabt? Ihre Familie war tot. Sie hätte sich an alles erinnern können. Ihr Leben war zu dem Zeitpunkt sowieso schon vorbei." Daphnes Stimme war belanglos, kühl.

Ich stand nur da und sah sie an. Ich hatte den gleichen Gedanken gehabt. Aber ich wusste nicht dass Daphne in der Lage war so zu denken. Ich wollte nicht, dass sie so dachte. Ich wollte nicht, dass sie so sprach. Denn es klang wie ich. Und ich wollte nie, dass jemand so war wie ich.

Plötzlich machten ihre Worte mich wütend.

„Was bildest du dir ein sowas zu sagen. Jeder hat ein Leben verdient", zischte ich ihr mit zusammengezogenen Augenbrauen ins Gesicht.

„Bitte! Dann schau selbst wie du damit klar kommst, wenn du dir das weiter einredest. Du bist nicht schuld an ihrem Tod." Daphne sprang auf und starrte mindestens genauso wütend zurück.

„Natürlich bin ich Schuld!", schrie ich sie an.

„Nein, bist du nicht! Voldemort ist an all dem Schuld! Er ist - "

„Ich bin seine Marionette! Würde ich das alles nicht tun, würden die ganzen Menschen noch leben."

Daphne schnaubte verächtlich und schüttelte den Kopf. „Kapierst du noch irgendwas? Hättest du sie nicht getötet, hätte sie jemand anders umgebracht. Bei denen ist es genauso wie bei Dumbledore! Du hattest keine Wahl."

„Es gibt immer eine Wahl! Diese Familie die heute Nacht gestorben ist, würde noch leben, wenn ich mich nicht darauf eingelassen hätte!", kreischte ich extrem laut und starrte sie an um erkennen zu können, ob sie es wirklich nicht verstand.

„Wenn du meinst", seufzte Daphne und schüttelte ihren Kopf. „Dann mach dich verrückt mit dem Gedanken, dass du eine ganze Familie ausgerottet und ein kleines Mädchen ermordet hast. Aber glaub mir, daran wirst du kaputt gehen!"

„Schön! Irgendeine Strafe muss ich ja bekommen. Ich hätte sogar den Tod verdient."

Daphne drehte sich ruckartig und mit großen Augen zu mir. „Lyssa!! Was sagst du da für Blödsinn. Ich kann es ja wirklich nicht beurteilen, aber wahrscheinlich war es das Beste für dieses Mädchen zu sterben. Du müsstest doch am besten wissen, wie es sich anfühlt, so viele Familienmitgliedern zu verlieren!" Ich spürte wie sie versuchte mich jetzt zu beruhigen. Aber ihre Worte machten rein gar nichts besser.

„Trotzdem habe ich nicht das Recht darüber zu entscheiden wer sterben und wer leben soll!" Ich verstand nicht warum sie es einfach nicht verstehen konnte. Oder wollte.

Daphne ließ sich zurück auf die Couch fallen. „Versuch einfach damit klarzukommen", sagte sie etwas ruhiger.

Jetzt platzte mir der Kragen. „Ist das dein Ernst? Ist das dein scheiß Ernst?! Verdammt ich habe ein kleines Mädchen umgebracht! Getötet!" Ich brüllte sie an, so laut, dass mittlerweile ganz Hogwarts wach sein müsste. „Und du sagst, ich soll einfach damit klarkommen?! Denkst du wirklich, ich werde irgendwann damit abschließen?" Dann wirbelte ich herum, starrte auf den Boden vor mir und stapfte unheimlich wütend die Wendeltreppe zu unserem Schlafsaal hinauf.

Hätte ich mich doch nochmal umgedreht.

Dann hätte ich Draco gesehen, der auf der anderen Treppe saß und mit wütenden Augen auf seine Hände starrte, die zu Fäusten geballt waren.


The Slytherin Girl - Kalte AugenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt