Kapitel 15

323 11 1
                                    

Paradise Park Trail

Mount Hood National Forest

9:22

Nach drei Stunden taten Lisa alle Knochen weh. Bis auf die erste halbe Meile stieg der Trail bergan und jeder Schritt kostete sie große Anstrengung. Wer aus Los Angeles kam, war die Fortbewegung auf eigenen Füßen nicht gewohnt, in L.A. legte man selbst kurze Entfernungen mit dem Auto zurück. Ihre Mutter brachte sie jeden Morgen in ihrem Auto in die Schule und holte sie nachmittags wieder ab. Wenn ihre Mutter nicht konnte, fuhr sie bei Freunden mit.

Natürlich joggte sie mal am Strand entlang, auch schwimmen ging sie, und gelegentlich sah man sie sogar im Fitnesscenter, aber ins Schwitzen geriet sie dabei selten. Es diente eher dazu, auch an diesen Orten gesehen zu werden. Kein Vergleich mit der mörderischen Anstrengung, der sie auf diesem steilen Pfad ausgesetzt war. Und die Wanderung, die sie während eines kurzen Urlaubs im Yosemite National Park unternommen hatte, war im Vergleich dazu ein gemütlicher Spaziergang. Nur aus Angst, sich vor den anderen zu blamieren, war sie noch dabei, sonst wäre sie längst umgekehrt.

Sie ging an viertletzter Stelle, vor Fletcher, den sie insgeheim 'Fletch' nannte, und den Zwillingen, zwei von der ganz ruhigen Sorte, die kaum etwas sagten und sich dafür aber ganz unproblematisch in die Gruppe einfügten. Fletch war ihr dicht auf den Fersen, fluchte jedes Mal, wenn er ihretwegen seine Schritte verlangsamen oder kurz stehen bleiben musste. Er erinnerte sie an den Quarterback das Footballteams an ihrer Highschool, ein unbeherrschter Bursche, wenn er den Ball verlor, aber auch außerhalb des Platzes, wenn ihm was nicht passte. Dennoch liefen ihm die Mädchen nach. Sobald sie bei den Cheerleader aufgenommen wurde, und das konnte sich nur noch um ein Jahr handeln, würde sie ihn sich angeln.

Der Trail wand sich durch dichten Wald. Mächtige Douglasfichten erhoben sich zu beiden Seiten des steinigen Weges. Ihre weit ausladenden Äste schwankten im kühlen Wind, der von den nahen Gletschern herunterwehte. Im Boden klafften tiefe Furchen, die Kanäle des Schmelzwassers, dasvon den Berghängen floss, und loses Geröll machten es selbst geübten Wanderern schwer, beim Laufen festen Halt zu finden. Außer einigen Krähen, die krächzend aus einem Baum gestorben waren, hatten sie noch keine Tiere gesehen.

Nach jeder Biegung, die sie erklommen, stöhnte Lisa unterdrückt. Der Trail änderte sich nicht. Immer wenn sie glaubte, nun würde es endlich mal nach unten oder wenigstens eben weitergehen, stieg der Weg weiter steil an.

"Können wir nicht mal Pause machen?", rief sie nach vorn.

Rang er Bosworth drehte sich zu ihr um, verlangsamte seine Schritte aber nicht. "So alt wir die Baumgrenze erreicht haben. In ungefähr einer Stunde."

"So lange noch?"

"Die vergeht schneller, als du denkst." Er blickte auf den Hund, der offensichtlich froh war, sich endlich mal nach Herzenslust auszutoben zu können, und ein Irrwisch auf und ab lief. Die Steigung schien ihm nichts auszumachen. "Nimm dir ein Beispiel an Candy, der wird über haupt nicht müde."

"Sehe ich vielleicht wie ein Hund aus?"

Alle lachten, was Lisa nur noch wütender machte. Sie war es nicht gewohnt, dass man sie veralberte. Die meisten Mädchen der Highschool, auf die sie ging, waren neidisch auf sie, weil sie wohlhabende Eltern hatte und sich die tollsten Klamotten leisten konnte, und die meisten Jungen himmelten sie an, weil sie hübsch war und sich in Szene zu setzen wusste. Zumindest bei den jüngeren Mitschülern, aber auch einige ältere waren schon darunter. Rafael zum Beispiel, der coole Latino, der sie im Cabrio seines Vaters mitgenommen und mit ihr durch den Topanga Canyon gefahren war. Auf einem versteckten Parkplatz hatte er angehalten und sich an sie rangemacht, und sie war gar nicht abgeneigt gewesen und hatte wild mit ihm herumgeknutscht.

12:48 Die Katastrophe beginntWo Geschichten leben. Entdecke jetzt