Kapitel 6

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Freitag, 8. August

Cascades Volcano Observatory

Vancouver, Washington

8:07 Uhr

David White war früh im Büro. Schon eine knappe Stunde bevor seine Schicht begann, schaltete er den Computer ein. Er hatte geschlagene zehn Stunden geschlafen, noch vor Sonnenaufgang heiß geduscht und zwei Eier mit Speck gegessen, bevor er in seinen Wagen gestiegen war. Mit einem extragroßen Cappuccino, den er unterwegs bei Starbuck's geholt hatte, setzte er sich an seinen Schreibtisch.

Die quälenden Gedanken an seine Exfreundin verdrängte er. Auch wenn sie keinen Anderen hatte, würde sie nicht zu ihm zurückkehren. Sein wissenschaftlich geschultes Hirn, das nur einwandfreie Ergebnisse Akzeptierte, sagte ihm, dass keine Chance bestand, sie zurückzugewinnen. Sie sehnte sich nach einem aufregenden Leben, das er ihr nicht bieten konnte. Sein Leben hatte kaum Glamour. Er war weder Künstler noch Weltenbummler, und um abends in den Clubs abzuhängen, war er meistens zu müde. Seine Arbeit erschien Außenstehenden eintönig, er kannte nur andere Wissenschaftler und er würde immer in einem bescheidenen Haus im Vorort wohnen. Vielleicht hatte sie sogar recht. Mit einem Typ wie ihm konnte das Leben nur Langweilig sein.

Während der Computer hochfuhr, zog er den Ausdruck vom vergangenen Tag aus der Tasche und studierte ihn noch einmal ausgiebig. Auch nüchtern betrachtet, beunruhigten ihn die Zahlen irgendwie. Bisher hatte jedoch weder jemand von den anderen Beobachtungstationen angerufen noch war ein Alarm ausgelöst worden, also konnte es wohl nicht so schlimm sein. Er war erst seit zwei Jahren im Volcano Observatory und ließ sich wahrscheinlich leichter aus der Ruhe als die erfahrenen Wissenschaftler, die diesen Job schon seit vielen Jahren betrieben. Man braucht doch nur auf die Landkarte mit den gefährdeten Regionen zu blicken. Der Mount Hood gehörte sicher nicht dazu.

Doch als er die seismografischen Stationen am Mount Hood einzeln aufrief, fand er wieder einige Unregelmäßigkeiten, diesmal auch von einer Station, die nur wenige Meilen von Government Camp entfernt war. Zwei Dezimalstellen hinter dem Komma sagten nicht viel, bedeuteten eine geringfügige Erschütterung, die man nur wahrnahm, wenn man sich darauf konzentrierte. Solche Erschütterungen kamen in vielen Gebieten vor. Die Erde war keine starre Kugel, die fest verankert im Weltall hing. Sie bewegte sich und veränderte sich ständig. Tief in ihrem Inneren brodelte zähes Magma, das sich auf über tausend Grad Celsius erhitze und sich durch die brüchigen Gesteinsschichten nach oben fraß. Genau das faszinierte David White an seinem Job, die Bewegung in der Erde. Sie stand nie still, obwohl es auf der Erdkruste den Anschein machte. Und die Seismografen, waren inzwischen so sensibel, dass sie auch ein leises Geräusch in mehreren Kilometern Tiefe wahrnahmen.

Dennoch druckte er die neuen Angaben aus. Er legte die Ausdrucke nebeneinander und studierte sie aufmerksam. Er war ganz in seinem Element, alle Sorgen waren erst einmal vergessen. Hier galt es, Zahlen richtig zu deuten. Denn genau diese Zahlenreihen würden ihm verraten, ob die Welt in Ordnung war, oder ob sich eine Katastrophe ankündigte. Während des Studiums an der University of Washington hatte er eine Arbeit über die Möglichkeit eines neuen Vulkanausbruchs in den Cascades geschrieben und war zu den Schluss gekommen, es könnte nur dazu kommen, wenn die Voraussetzungen ähnlich wie am Mount St. Helens liegen. Damals war flüssiges Magma in geringer Tiefe in den Berg gedrungen und hatte für gefährliche Risse auf der Nordflanke gesorgt. Bereits dieser Vorgang hatte für einige kleiner Erdbeben gesorgt und den Ausbruch angekündigt. Es hatte damals noch kein Cascades Volcano Observatory gegeben, aber seismografische Untersuchungen waren vorgenommen worden, nur hatte sie niemand ernst genommen. War es diesmal wieder so? Übersahen sie die drohenden Anzeichen eines Ausbruchs?

White ging auf die Archivseiten und rief die Aufzeichnungen vom Mount St. Helens auf. Er hatte sich während seiner Arbeit so intensive mit diesen Berichten und Zahlen beschäftigt, dass er nicht lange zu suchen brauchte. Hoch konzentriert ging er die Zahlenkolonnen durch. Er verglich sie mit seinen neuen Ausdrucken und konnte keine Ähnlichkeiten feststellen. Der Mount St. Helens war ein sogenannter Schichtenvulkan wie der Mount Hood. Er bestand aus mehreren Gesteinsschichten, die sich während der Ausbrüche der vergangenen Jahrtausende abgesetzt hatten und gegenüber aufsteigendem Magma sehr empfindlich waren. Am Mount St. Helens hatte sich die gesamte Nordflanke vom Berg gelöst und eine riesige Lawine aus Schlamm und Asche mitgerissen. Giftige Gase und glühende Lava hatten die Wälder im weiten Umkreis zerstört.

12:48 Die Katastrophe beginntWo Geschichten leben. Entdecke jetzt