Kapitel 36

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Timberline Trail

Mount Hood National Forest

12:50 Uhr

Die Druckwelle schleuderte Jennifer zu Boden. Sie überschlug sich mehrmals und blieb benommen im Gras liegen. Instinktiv krallte sie ihre Finger in das feuchte Erdreich, grub ihr Gesicht tief ins Gras und die Wildblumen, um nichts von dem heißen Wind abzubekommen, der vom explodierenden Krater des Mount Hood herabblies. Sie presste sich so dicht und fest wie möglich auf den Boden.

Der Lärm war so gewaltig, dass sie sich am liebsten die Ohren zugehalten hätte. Doch sie wollte nicht loslassen, hatte Angst, von der ungeheuren Wucht des Ausbruchs hinweggeschleudert zu werden. Um sie herum krachte, pfiff und rumorte es, flogen Dreck und Steine, wirbelte Asche in schwarzen Flocken über den bunten Blumenteppich. Sie brauchte nicht den Kopf zu heben und die Augen zu öffnen, um zu erkennen, was passiert war. In ihrem Kopf waren die Bilder des Mount St. Helens, der Ausbruch vor dreißig Jahren, der alle paar Monate in irgendwelchen Dokus über den Bildschirm flimmerte, de explodierende Vulkan, das glühende Magma und die schwarze Asche, die aus seinem Inneren schossen und wie eine Säule über dem Krater standen, die Aschewolken, die wie schwarzer Nebel über den Himmel zogen.

Aber im Fernsehen waren das nur Bilder gewesen, eindrucksvolle Szenen in grellen Farben, die sie mit ihrem abwechslungsreichen Lichtspiel auch fasziniert hatten. Jetzt wirkten sie bedrohlich und sie hatte einen ätzenden Geruch in der Nase und fürchterliche Angst.

Nur ganz allmählich ließ das Donnern nach, verebbte der Ascheregen und legte sich der glühend heiße Wind. Das Dröhnen, das während der letzten Minuten den Boden erschüttert hatte, wurde leiser und verstummte ganz. Sie blieb dennoch liegen, wagte weder ihren Griff zu lockern noch den Kopf zu heben. Erst nachdem sie sich sicher sein  konnte, das Schlimmste überstanden zu haben,  ließ sie langsam los und öffnete die Augen. Aus Angst, dem wütenden Wy'east in die Augen blicken und das Ausmaß seiner Zerstörung betrachten zu müssen, hob sie den Kopf in Zeitlupe, sah erst die Asche auf dem Gras und den Wildblumen, einige brennende Grasflecken und dann den Mount Hood, der sein Aussehen von einer Sekunde auf die andere verändert hatte.

Statt der leuchtenden Gletscher sah sie über dem Krater eine wallende Aschewolke hängen, die sich wie ein riesiger Atompilz zum Himmel reckte. Der Schnee auf den Gipfelhängen war geschmolzen die Gletscher im äußersten Nordwesten glänzten unheimlich und dunkel. Im Süden leuchteten sie noch weiß, war die Zerstörung nicht so groß. Westlich vom Berg brannten einige Bäume. Selbst mit dem bloßen Auge erkannte man, wie einige Tiere, wahrscheinlich Hirsche und Rehe, vor dem Vulkan davonrannten, in dem Schutt, der sich in den Ausläufern angesammelt hatte, den Halt verloren und zu Boden stürzten. Die meisten standen nicht mehr auf.

Jennifer stemmte sich vom Boden hoch und blieb auf allen vieren hocken, bis sich die Benommenheit in ihrem Kopf gelegt hatte. Die größte Wucht des Ausbruchs hatte sich nach Norden gerichtet, weg von ihnen, einem eher menschenleeren Gebiet entgegen. Anscheinend war es wie beim Ausbruch des Mount St. Helens zu einem Bergabbruch gekommen und der größte Teil des Magmas und der Schutt und das Schmelzwasser flossen in die andere Richtung. Was nicht hieß, dass sie sich nicht in höchster Gefahr befanden. Einige der Lawinen konnten sich durch die ausgetrockneten Bachbette auch in ihrer Gegend wälzen, und wenn der Wind ungünstig stand, wehte auch die Asche in ihre Richtung und ließ glühende Fetzen in die Wälder regnen. Sie konnte einzelne Brandherde entdecken, die ihre Vermutung bestätigen.

Sie stand vorsichtig auf und reckte sich. Erst jetzt konnte sie klarer denken und ihre Gedanken wanderten zu Ranger Bosworth, der irgendwo in der Nähe sein musste. Sie rieb sich den Ruß aus den Augen und blickte sich angestrengt nach dem Ranger um. Er war nirgendwo zu sehen. "Ranger Bosworth! Ranger Bosworth! Wo sind Sie?" Ihre Stimme klang heiser und irgendwie fremd.

12:48 Die Katastrophe beginntWo Geschichten leben. Entdecke jetzt