Kapitel 19

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Sonntag, 10. August

Blockhaus der Nolans

Government Camp, Oregon

9.17 Uhr

Emily Nolan trank gerade ihren Kaffee aus, als sie aus dem Fenster blickte und die Gestalt am Waldrand bemerkte. Sie hielt mitten in der Bewegung inne und starrte ungläubig auf den greisen Mann mit dem den langen weißen Haaren. Wie ein Geist stand er im trockenen Gras und blickte zu ihr ins Zimmer.

Zuerst glaubte sie an eine Sinnestäuschung. Sie brauchte morgens eine Weile, um munter zu werden, besonders sonntags, wenn sie länger schlief und die Zeit nicht drängte. Neugierig trat sie ans Fenster. Den Kaffeebecher in beiden Händen, blickte sie zum Waldrand und betrachtete den Mann. Sein Gesicht lag im Schatten der Bäume und war nur undeutlich zu erkennen. Wie zu Stein erstarrt stand er dort, lediglich seine langen Haare wehten im Wind.

Obwohl sie noch im Morgenmantel war, ging sie zur Tür und öffnete sie wütend. Man kannte sich hier und vertraute einander, Fremden wurde bereitwillig die Tür geöffnet, aber sie mochte es nicht, wenn man sie beobachtete. "Hey!", rief sie wütend. "Was soll das? Warum beobachten Sie mich?" Doch die Gestalt war verschwunden und der Waldrand lag vereinsamt jenseits der Schotterstraße.

Sie blieb eine Weile stehen und wartete darauf, dass der Mann zurückkehrte, doch nichts geschah. Anscheinend hatte sie sich doch getäuscht. Sie schloss die Tür und kehrte in die Küche zurück, trank ihren Kaffee aus und ging ins Bad. Nachdem sie sich ausgiebig geduscht und ihre bequemen Jeans und ein Sweatshirt angezogen hatte, fühlte sie sich wohler. Wer die ganze Woche im Kostüm oder Hosenanzug herumlief, wie es das Hotel verlangte, sehnte sich an seinen freien Tagen nach legerer Kleidung. Sie wollte an diesem Sonntag mal richtig faulenzen in ihrem knallroten Schaukelstuhl auf der Veranda und die ungewöhnlich warme Sonne genießen, in dem Krimi lesen, den sie sich im Hotelshop gekauft hatte, und mittags nach Sandy fahren und sich eine luxuriöse Mahlzeit in dem Steakhaus an der Hauptstraße gönnen. So gut sie sich mit ihrer Tochter verstand, aber ein paar Tage für sich allein hatten definitiv etwas Erholsames.

Sie goss sich eine weitere Tasse Kaffee  ein, naschte einen Schokokeks aus der offenen Packung im Schrank und blickte aus dem Fenster. Keine Spur von dem greisen Mann. Es wurde wirklich Zeit, dass sie wieder mal richtig ausspannte. Sie hatte in letzter Zeit viel gearbeitet, gehörte schon zu den älteren Semestern in ihrer Abteilung, so seltsam das klang, und musste sich besonders anstrengen. Sie ging mit dem Becher in der linken Hand und dem Krimi unter dem Arm zur Haustür und öffnete sie erneut.

Der Mann stand auf der Veranda, keine zwei Schritte von ihr entfernt, und blickte sie an. Ein greiser Indianer mit einem zerfurchten Gesicht, der älteste Mann, den sie jemals gesehen hatte, schäbig gekleidet und mit der rechten Hand auf einen Krückstock gestützt. Seine Augen waren wach und lebendig.

"Himmel, was soll das?" Sie ließ beinahe ihren Kaffee fallen. "Was fällt Ihnen ein, auf meinem Grundstück herumzuschleichen? Warum klopfen Sie nicht an, wenn Sie was von mir wollen?" Sie stellte den Kaffee auf das Fenstersims neben der Tür und wischte sich den verschütteten Kaffee vom Handgelenk.

"Sie sind Emily", sagte er.

"Emily Nolan", erwiderte sie. "Und? Wer sind Sie?"

"Ich habe einige Namen in meinem Leben gehabt und noch keinen Weißen getroffen, der sie aussprechen kann. Selbst im Reservat beherrschen nur noch wenige Menschen unsere Sprache. Ich komme aus einer anderen Zeit." Er überlegte eine Weile. "Nennen Sie mich John. Das tun alle in meinem Dorf."

Emily hatte sich einigermaßen beruhigt und konnte schon wieder lächeln. der alte Mann war ihr sogar irgendwie sympathisch. Er strahlte eine ungewöhnliche Ruhe aus, und in seinen Augen lag Duldsamkeit, die von einem langen Leben unter größter Armut herrühren musste. Sie deutete auf den Schaukelstuhl. "Setzen Sie sich, John. Ich bringe Ihnen einen Kaffee, okay?"

12:48 Die Katastrophe beginntWo Geschichten leben. Entdecke jetzt