Kapitel 22

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Blockhaus der Nolans

Government Camp, Oregon

11:24 Uhr

Emily Nolan legte ihr Buch beiseite und stand auf. Sie hatte mehrere Seiten gelesen, ohne sich an irgendetwas erinnern zu können, und den Kaffee, der auf dem Holztisch stand, hatte sie nicht einmal angerührt. Sie konnte sich nicht konzentrieren. Immer wieder kehrten ihre Gedanken zu dem greisen Indianer zurück, der sie vor einem bevorstehenden Ausbruch des Mount Hood gewarnt und beinahe angefleht hatte, mit dem 'Männern und Frauen, die das Sagen hatten' zu sprechen. Gleich mehrmals war sie zum Telefon gelaufen  und auf halben Weg wieder umgekehrt. Man würde sie als Spinnerin abwimmeln. "Glauben Sie im Ernst, unsere Experten würden so etwas übersehen? Unsere Messinstrumente sind verlässlicher als ein alter Medizinmann."

So oder ähnlich würden sie ihr antworten. Zu unwahrscheinlich war die Annahme, dass der Indianer recht hatte. Es mochte viele Dinge zwischen Himmel und Erde geben, die man sich nicht erklären konnte, und vielleicht gab es sogar Menschen, die mit den Geistern sprechen und in die Zukunft sehen konnten, aber einen Vulkanausbruch hatte bisher noch keiner vorausgesagt. Auch kein greiser Medizinmann oder was immer dieser Indianer war.

Doch die Ungewissheit ließ ihr keine Ruhe. Immer wenn sie den Kopf hob und den Krater des Mount Hood über den Wäldern aufragen sah, musste sie an Jennifer und die anderen Kinder denken. Und an Ranger Bosworth. Selbst wenn es da oben nur zu geringfügigen Erdbeben oder Explosionen kam, waren sie in höchster Gefahr. Schon ein herabstürzender Felsbrocken oder austretende Gase konnten sie verletzten  oder töten. Sie durfte nicht tatenlos auf der Veranda sitzen, selbst wenn sie in Gefahr geriet, sich lächerlich zu machen.

Entschlossen ging sie ins Wohnzimmer. Sie schnappte sich das schnurlose Telefon, rief die Auskúnft an und ließ sich die Nummer des Cascades Volcano Observatory geben. Sie wurde direkt verbunden. "Cascades Volcano Observatory, wie kann ich Ihnen helfen?", meldete sich eine freundliche Stimme.

"Emily Nolan aus Zigzag, Oregon". erwiderte sie. "Ich weiß, es ist Sonntag, aber ist zufällig der Institutsleiter oder ein Verantwortlicher im Haus? Ich habe ein paar wichtige Informationen für ihn."

Die freundliche Dame hatte anscheinend keine Hemmungen, ihren Chef mit einer Lappalie zu belasten. Vielleicht lag es am sonnigen Wochenende oder das Volcano Observatory war doch kleiner, als sie dachte. Sie wurde direkt durchgestellt.

 "Ja, bitte?", erklang die Stimme eines jungen Mannes.

"Emily Nolan aus Zigzag, Oregon", wiederholte sie. "Sind Sie der Hauptverantwortliche?" Sie gab ihm keine Chance zu antworten und fuhr fort: "Ich weiß, es klingt verrückt, und ich sollte Sie eigentlich nicht mit solchen Meldungen belästigen, aber bei mir vor ungefähr zwei Stunden ein alter Indianer zu Besuch, ein Medizinmann oder so was. Er sagte, der Mount Hood würde ausbrechen, irgendwann in den nächsten Tagen. Ich gebe normalerweise nichts auf solche Gerüchte. Man hört doch immer wieder von Hellsehern oder religiösen Fanatikern, dass die Welt untergehen würde, und wenn es so weit ist, geschieht nichts." Sie holte einmal tief Luft. "Aber meine Tochter ist mit einem Ranger und einer Wandergruppe am Mount Hood unterwegs, und ich habe große Angst, dass doch etwas dran ist an dieser Meldung. Der Indianer war nicht betrunken und ein Spinner war er auch nicht. Ich weiß, dass uns ihr Institut sofort warnen würde, wenn ein Ausbruch bevorstünde, aber gibt es sonst irgendetwas, das mit der Prophezeiung dieses Indianers zusammenhängen könnte? Entschuldigungen Sie, dass ich Sie mit meinen Ängsten belästige aber...Sie würden uns doch sagen, wenn etwas an der Warnung des Indianers dran wäre, das würden Sie doch..."

Emily glaubte schon, der Mann am anderen Ende hätte aufgelegt, so lang dauerte es, bis endlich eine Antwort kam: "Entschuldigen Sie, aber Mister Sampson ist gerade nicht an seinem Platz. Mein Name ist David White, ich bin nur ein Angestellter." Wieder eine längere Pause und dann: "Ein alter Indianer hat Sie vor einem Ausbruch gewarnt, sagen Sie? Ein Medizinmann?"

"Das klingt seltsam, ich weiß. Das Reservat liegt nur ein paar Meilen von hier entfernt und es sind öfter Indianer hier. Der Medizinmann, wenn es einer war, muss mich von irgendwo her kennen. Ist etwas dran an der Meldung?"

"Nun ja...", versuchte White, Zeit zu gewinnen.

"Es stimmt, was er sagt?" Ihre Stimme wurde leicht hysterisch.

Am anderen Ende erklang eine Räuspern. "Wir zeichnen hier öfter kleinere Erdstöße auf, sogenannte Mikrobeben...die sind im näheren Umkreis eines Vulkans nichts Ungewöhnliche...nichts, worüber man sich Sorgen machen müsste...wie gesagt, die kommen öfter vor...gestern allerdings..."

"Was war gestern, Mister White? Nun reden Sie schon!"

Emily hatte den Eindruck, dass der Mann am anderen Ende nach den richtigen Worten suchte. Kein tröstlicher Gedanke. "Nichts Besonderes, Mrs Nolan. Aber wenn dieser Indianer, mit dem Sie gesprochen haben, draußen in der Natur war, könnte es natürlich sein, dass er eines dieser Mikrobeben zu spüren bekam. Sie treten oft sehr begrenzt auf, und wenn er sich ausgerechnet am Ort eines solchen Mikrobebens aufhielt...er bekam es vielleicht mit der Angst zu tun und zog die falschen Schlüsse. Kein Grund, sich deswegen Sorgen zu machen, Mrs Nolan. Vielleicht wollte er sich nur wichtig machen."

"Sie sagen mir doch die Wahrheit, Mister White?"

"Natürlich, Mrs Nolan. Warum...warum sollte ich Sie belügen?" Im Hintergrund erklangen Schritte. "Ich muss jetzt auflegen, Mrs Nolan", sagte er hastig. "Ich habe Ihre Nummer hier auf dem Display. Wenn noch etwas ist, rufe ich Sie an."

"Das ist sehr freundlich von..."

Am anderen Ender wurde aufgelegt.

Hey hoffe es hat euch gefallen. Vielleicht gibt ihr mir mal Feedback auch gerne per Privatnachricht. Außerdem werden es ca. noch drei Kapitel bis Montag morgen, also der "Vulkanausbruchstag" kommen. Also Vorfreude ist angesagt :D

Melly:*

12:48 Die Katastrophe beginntWo Geschichten leben. Entdecke jetzt