Cascades Volcano Observatory
Vancouver, Washington
11:12 Uhr
David White saß seit dem frühen Morgen an seinem Computer. Er wusste, dass an diesem Sonntag nur wenige Angestellte im Büro waren und er einigermaßen ungestört arbeiten konnte. Auch der Chef lisß sich sonntags nur ganz selten im Büro blicken. Er hatte eine strenge Frau, die auf mindestens einen freien Tag in der Woche bestand, und außerdem zwei Töchter im Alter von sechs und sieben Jahren, die er werktags nur auf dem Foto in seinem Büro zu Gesicht bekam.
Die Messungen vom Freitag hatten White keine Ruhe gelassen. Immer wieder tauchten die Zahlen in seinen Gedanken auf, sogar beim Abendessen in der Pizzeria nebenan und beim Fernsehen. Noch beunruhigender war, dass jemand seine Dateien gelöscht hatte. Natürlich konnte das Zufall sein. Es kam öfter vor, dass ein Programm verrückt spielte oder eine Datei verschwand. Eine Verschwörung dahinter zu vermuten, war abwegig. Dennoch hatte er sich die halbe Nacht mit diesem Gedanken herumgeschlagen. Die Sache beschäftigte ihn so sehr, dass er seine Freundin schon beinahe vergessen hatte.
Denn wenn jemand die Dateien gelöscht hatte, wollte er verhindern, dass sie in Umlauf gerieten und an die Öffentlichkeit drangen. Dann war doch etwas an seinen Berechnungen dran und irgendjemand wollte die Sache vertuschen.
Aber wer?
Und warum?
White war so besorgt, dass er fest entschlossen war, die Hochrechnung noch einmal zu erstellen, und wenn er seinen ganzen Sonntag dafür opfern musste. Er wollte Gewissheit haben. Ob er bei einer zweiten Berechnung zum selben Ergebnis kommen würde und ob es einen Grund gab, sich ernsthafte Sorgen zu machen. Auch an diesem Morgen gab es wieder geringfügige Abweichungen in den seismografischen Messungen am Kraterrand des Mount Hood und die Berechnung würde mit diesen Zahlen noch genauer werden.
Seine Tür war verschlossen und niemand wusste, dass er im Büro war. Sein Kollege Bill, der öfter mal auf ein Schwätzchen auftauchte, hatte an diesem Sonntag frei. Er wurde nicht mal durch das Klingeln des Telefons gestört und konnte ungehindert arbeiten. Die Berechnungen waren kompliziert und erforderten seine ganze Aufmerksamkeit, erinnerten ihn auf schmerzliche Weise an die Prüfungen während des Physikstudiums. Wenn es um Wahrscheinlichkeiten ging, stießen auch begabte Mathematiker an ihre Grenzen.
Als er es endlich geschafft hatte, wartete er mit einem quälenden Gefühl im Magen auf das Ergebnis. Der Computer brauchte eine ganze Weile, um seine Eingaben zu verarbeiten. Ohne den Blick vom Monitor zu nehmen, griff er nach seinem Cappuccino, doch der Becher war längst leer, und er bekam nur noch einen kalten Milchschaum-Rest auf die Lippen. Er warf den Becher in den Abfall. Wie gebannt blickte er auf den Monitor.
Die Meldung ließ ihn erstarren. Auch mit den neuen Zahlen war er zum selben Ergebnis wie vor zwei Tagen gekommen. Nach seiner Hochrechnung würde der Mount Hood am Montag um 12 Uhr 48 ausbrechen und dabei eine ähnliche Wucht erreichen wie der Mount St. Helens vor über dreißig Jahren.
Montag 12 Uhr 48. Noch etwas über vierundzwanzig Stunden.
Oder war das Ergebnis falsch?
Sein Ergebnis konnte auch zustande gekommen sein, weil er zweimal den gleichen Fehler gemacht hatte. In seinem Eifer, unbedingt zu einem Ergebnis zu kommen, war er vielleicht übers Ziel hinausgeschossen, hatte er eine Möglichkeit als wahrscheinlich eingestuft, die auch von anderen Faktoren abhing und eher als vage zu bewerten war. Eine Hochrechnung war nie korrekt, das sah man ja während der Präsidentschaftswahlen, wenn die Institute mit unterschiedlichen Voraussagen aufwarteten und manchmal auch völlig danebenlagen. Doch diesen Instituten lagen teilweise konkrete Ergebnisse aus einzelnen Staaten vor und er hatte nur ein paar Messungen zur Verfügung. In seinen Rechnungen musste er mit wesentlich mehr Unbekannten auskommen.
Seine Rechnung konnte nicht stimmen, sie durfte einfach nicht stimmen! Das hier war definitiv schlimmer als seine Physikprüfung, denn damals wusste er, dass ein falsches Ergebnis höchstens Auswirkungen auf seine Prüfungsnote hatte. Aber wenn er bei dieser Hochrechnung einen Fehler gemacht hatte, hätte das weitaus schlimmere Konsequenzen. Du hast dich da in etwas hineingesteigert, beruhigt er sich, wenn der Mount Hood wirklich vor einem Ausbruch steht, hätten erfahrenere Wissenschaftler doch längst Alarm gegeben. Die Messgeräte hatten vier oder fünf Mikrobeben aufgezeichnet, weiter nichts. Erschütterungen, wie sie alle paar Tage in den Cascades vorkamen. Es war verrückt, eigentlich schon anmaßend von ihm, davon eine Gefahr für die ganze Region abzuleiten. Er verwechselte seine Arbeit mit einem Computerspiel, das von einem Level zum nächsten führte und mit dem Untergang der Welt oder etwas Ähnliches drohte. Du hast zweimal die gleiche Berechnung angestellt, ist doch klar, dass du zum selben Ergebnis kommst, die neuen Messdaten weichen nur minimal von den anderen ab und fallen kaum ins Gewicht. Und wenn du die Rechnung noch zehnmal wiederholst, kommst du zu keinem anderen Ergebnis. Gib endlich auf!
Der Chef betrat sein Büro. Mit einem raschen Mausklick gelang es White, die Seite mit dem Ergebnis wegzudrücken. Unglücklicherweise erschien die vorletzte Seite, die genauso verräterisch wie die letzte war.
"David! Was tun Sie denn hier?", rief Sampson überrascht. Ein flüchtiger Blick auf den Monitor beantwortete seine Frage. Sein Gesicht verhieß nichts Gutes. "Kommen Sie in mein Büro, David. Ich möchte mit ihnen reden."
White griff nach seiner Jacke und folgte Sampson durch den Flur. Er fühlte sich wie ein Kalb, das zur Schlachtbank geführt wurde. Wenn es dumm lief, feuerte ihn der Chef in wenigen Minuten, und mit dem Zeugnis, das er dann bekäme, würde es ihm schwerfallen, einen ähnlich guten Job zu finden. Wäre er doch bloß zu Hause geblieben! Wie konnte er auf den wahnwitzigen Gedanken kommen, klüger als die langjährigen Mitarbeiter des Observatory zu sein? Mit seiner geringen Berufserfahrung versuchte man keinen Vulkanausbruch vorauszusagen. Das grenzte schon an...an Hochstapelei und Anmaßung. Oh, ich Idiot!
Doch Sampson reagierte milder, als er befürchtet hatte. Er bot ihm sogar einen Kaffee an und sagte: "Ich verstehe Sie ja, David. Sie sind jung und ungeduldig und wollen so schnell wie möglich auf der Karriereleiter nach oben steigen. So war ich auch mal, David, glauben Sie mir. Vielleicht haben Sie ja auch einen von diesen Katastophenfilmen gesehen, da gibt es doch immer einen symphatischen jungen Mann, der die Welt im Alleingang vor der Zerstörung rettet. Aber so läuft das im wirklichen Leben nicht. Wir sind ein Team und keine Einzelkämpfer. Und ein Neuling sollte sich immer unterordnen und den erfahrenden Mitarbeitern die großen Entscheidungen überlassen. Wie im Football, da spielt der Rookie auch nicht in der ersten Reihe. Um einen Vulkanausbruch voraussagen zu können, braucht es mehr als mathematische Begabung, da spielen so viele Komponenten mit, dass vor allem Erfahrung gefragt ist. Und das haben Sie nicht, David. Noch nicht. Auf keinen Fall sind Sie schon so weit, um solch eine Hochrechnung durchzuführen. Überlassen Sie diese Arbeit uns alten Recken."
"Ich wollte doch nur...", begann White kleinlaut.
Sampson ging mit einer Handbewegung darüber hinweg. "Ich verstehe Ihren Antrieb, David, aber es gibt wirklich keinen Grund, sich Sorgen zu machen. Wir haben alles im Griff,. Es gibt nicht den geringsten Anhaltspunkt für einen bevorstehenden Ausbruch. Ich habe die Messdaten selbst überprüft."
White nickte wie ein begossener Pudel.
"Sie können ganz beruhigt sein, David. Sie bekommen keine Abmahnung. Aber ich möchte, dass Sie dich ein paar Tage frei nehmen. Bleiben Sie die nächste Woche zu Hause und erholen Sie sich. Sie sind überarbeitet und..."
Eine Mitarbeiterin streckte den Kopf zur angelehnten Tür hinein und sagte: "Entschuldigung! Ihre Frau und Ihre Kinder warten in der Lobby. Sie haben versprochen, mit Ihnen zum Essen zu fahren. Ihre Frau ist sehr ungehalten, Chef."
"Ich komme", antwortete Sampson. Er wandte sich noch einmal an White: "Bis übernächsten Montag", und folgte der Mitarbeiterin in den Flur.
White blieb in Sampsons Büro zurück.
Das Telefon klingelte...
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12:48 Die Katastrophe beginnt
ActionJenn ist glücklich. Sie ist mit Ranger Bosworth und vier anderen Jugendlichen auf einer mehrtägigen Vulkanwanderung im Naturschutzgebiet unterweges. Schnell freundet sie sich mit dem attraktiven Chris an, der als Hobbyfotograf bald kein anderes Moti...