12:48 Die Katastrophe beginnt

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Kapitel 1

Donnerstag, 7. August

Highway 26 bei Government Camp, Oregon
7:32 Uhr

Der greise Indianer mit den langen weißen Haaren trat keuchend zwischen den Bäumen hervor und blieb nachdenklich stehen. Er stützte sich auf seinen Krückstock, erleichtert darüber, dass er die lange und mühsame Wanderung geschafft hatte, und blickte ängstlich zum Mount Hood empor. Über dreitausend Meter ragte der schneebedeckte Gipfel des kegelförmigen Berges in den Morgennebel. man kannte uhn nur als friedlichen Vulkan, doch seit einigen Tagen erschien er dem Indianer bedrohlich wie ein gewaltiges Ungeheuer.
Von der Sorge getrieben, der Berg könnte zum Leben erwachen und ihm seinen feurigen Atem ins Gesicht blasen, stieg er über einen schmalen Pfad zur straße hinab. Wie ein Gespenst wirkte der alte Mann mit seinem zerfurchten Gesicht und seinen strähnigen Haaren. Hundert Jahre sollte er alt sein, erzählte man im Reservat, vielleicht sogar noch älter. Einige hielten ihn für einen Schamanen, einen heiligen Mann, der mit Geistern in Verbindung stand. Andere für einen Spinner, der nicht mehr verstand, was um ihn herum vorging, und schon zu lange lebte. Er sei der letzte Häuptling seines Stammes, einer der letzten wahren Krieger, sagte er von sich selbst.
Jenseits des Highways tauchte eine einsame Tankstelle aus dem Nebel auf. Sie lag eine halbe Meile außerhalb von Government Camp, einer winzigen Siedlung am Rande des Mount Hood National Forest in Oregon. Im verwaschenen Licht der bunten Reklametafeln beobachtete er, wie sich ein Kombi näherte und zur Tankstelle abbog. Der Wagen hielt vor den Zapfsäulen und ein kleiner Mann stieg aus. Im Nebel war er nur schemenhaft zur erkennen. Während er tankte, unterhielt er sich mit einer Frau auf dem Beifahrersitz. Die beiden schienen die einzigen Menschen im weiten Umkreis zu sein. Warscheinlich Urlauber, die in die Ferien fuhrenund in den Wäldern am Mount Hood wandern wollten. Er musste sie unbedingt warnen.
Auf dem halben Weg zur Straße stützte er sich auf einen Felsen und wartete, bis sein Atem ruhiger ging. Der steile Abstieg war anstrengender, als er gedacht hatte. Seit vier Stunden war er unterwegs. Direkt aus den zerklüfteten Bergen war er zum Highway hinabgestiegen, wie ein geheimnissvoller Bote, den die Geister aus einer anderen Welt geschickt hatten. Er hatte es eilig. Die Ranger mussten so schnell wie möglich erfahren, welche Nachricht ihm der Große Geist in einem Traum geschickt hatte. Diese gegend musste so schnell wie möglich geräumt werden. Nur wenn die Behörden sofort handelten, konnte eine Katastrophe vermieden werden. Wer die bösen Geister herausforderte, musste damit rechnen, von ihrem heißen Atem berührt und in die abgrundtiefen und dunklen Jagdgründe ohne Wiederkehr gezogen zu werden.
Vier Tage und vier Nächte hatte er im Wilfred Cnyon gefastet. Die Antwort auf seine Gebete war in der Mittagshitze des dritten Tages gekommen. Der Große Geist hatte in Form eines mächtigen Bären zu ihm gesprochen, eines Grizzly, der aus den zerklüpften Ausläufern des Mount Hood gekommen und vor dem Schatten des gewaltigen Berges in den Wald geflohen war. Ein deutliches Zeichen. So wie in der alten Legende, die von einem tapferen Krieger berichtete, der lange vor der Ankunft der Weißen in diesem Land gelebt hatte. Als der Krieger den alten und massigen Mount Hood, der damals wie ein Gott von seinem Stamm verehrt wurde, für sein eigenes Versagen verantwortlich machen wollte,die felsigen Berghänge bespuckte und versuchte, alles Wild zu töten, erhob sich der Berg gegen ihn und erstickte ihm in flüssigen Feuer. Der Krieger brannte lichterloh wie eine Fackel und wurde zu Vulkanstaub.
Der greise Indianer schüttelte beim Gedanken an diese Legende besorgt den Kopf, stützte sich von dem Felsbrocken hoch und humpelte mit verkniffenem Gesicht zur Straße hinunter. Jeder Schritt bereitete ihm höllische Schmerzen. Vor über dreißig Jahren, als eine Operation noch möglich gewesen wäre, hatte ihm das Geld für künstliche Kniegelenke gefehlt, und jetzt reichte es nicht einmal mehr für die starken Schmerzmittel. Er lebte von der Sozialhilfe und den Zuwendungen, die das Kasino den Bewohnern des Reservats zukommen ließ. Zu wenig, um sich einen Platz im Pflegeheim leisten zu können. Er war auf die Hilfe einer entfernten Cousine angewiesen.
Der Fahrer des Kombis war gerade mit tanken fertig, als der Indianer die Tankstelle erreichte. "Weißer Mann!" rief er atemlos. "Warten Sie. Ich muss Sie warnen! Es geht um Leben und Tod! Hören Sie mich an, Mister! Sie dürfen nicht weiterfahren!"
Der Freemde musterte ihn geringschätzig und ging rasch an ihm vorbei.Anscheinend hielt er nicht viel von heruntergekommenen Ureinwohnern. Durch den Nebel konnte man hören, wie seine Fau in dem Wagen die Türen von innen verriegelte.
Der Indianer folgte ihm in den Tankstellenshop und hielt sich an dem Regal mit dem Motorenöl fest. Die Wärme in dem laden tat ihm gut. Er trug lediglich verwaschene jeans, ein karriertes Flanellhemd und die speckig Jeansjacke, die einem seiner Söhne gehört hatte. Seine Stiefel waren durchgelaufen. Genug für den Sommer, wenn man nur tagsüber aus dem Haus ging, aber nachts und auch am frühen Morgen konnte es empfindlich kalt sein.
"Was willst du?" fragte der Kassierer feindselig. Er ließ den Kombi-Fahrer gerade die Quittung unterschreiben. "Ich hab keinen Schnaps."
Der Kunde drehte sich besorgt um. Er wirkte eher ängstlich, als hätte er noch nie einen Indianer gesehen. Er bereute wohl jetzt schon, an der einsamen Tankstelle gehalten zu haben. Warscheinlich hatte er einen großen Bogen um das Reservat gemacht, in der Annahme, alle Indianer wären betrunkene Taugenichtse und hätten es wie früher auf harmlose Reisende abgesehen.
"Fahren Sie nach Hause!" sagte der Indianer zu ihm. Seine Stimme klang brüchig von dem anstrengenden Marsch. "Wy'east ist böse auf die Menschen! Er wird uns alle vernichten! Fahren Sie, solange Sie noch können, Mister!"
"Lassen sie mich in Ruhe! Sie sind ja betrunken!"
"Ich bin nur erschöpft, Mister. Ich trinke nie Schnaps. Nur Kaffee und Wasser. Ich mag nicht mal Bier." Er hätte dem Fremden am liebsten gesagt, dass nicht alle Indianer so waren, wie sie das Fernsehen zeigte, aber dazu war keine Zeit. "Hören Sie auf mich, Mister! Wy'east will sich an den Menschen rächenund es wird eine große Katastrophe geben! Kehren Sie um, Mister!"
"Ich verstehe kein Wort", erwiederte der Fremde. Er verstaute die Kreditkarte in seiner Brieftasche und schob sie in seiner Jackentasche. "Wy. . . was?"
"Wy'east. So nennt die Indianer den Mount Hood",sagte der Mann an der Kasse.
"Der Große Geist wird Wy'east zum Leben erwecken."Der greise Indianer ließ sich nicht beirren. "Er will, das der Berg die Menschen bestraft. Die Weißen haben die Erde in seinem Reich aufgerissen. Sie haben Hotels und Lodges erbaut und ganze Wälder für Skifahrer uund Snowboarder gerodet. Dafür werden alle Menschen in seiner Nähe sterben. Glauben Sie mir er hat mir ein Zeichen gegeben, ich sage die Wahrheit."
"Was soll der Blödsinn?" Der Mann an der Kasse verstaute die Quittung in einer Schublade. "Willst du behaupten der Mount Hood würde ausbrechen?" Er kicherte verächtlich. "Ich glaube fast, du hast doch zu tief in eine Schnapsflasche geschaut. Der Mount Hood ist noch nie ausgebrochen. Hey Mann, der hat vielleicht vor hundert Jahren mal geraucht, aber heute ist er sicher. Bevor der Mount Hood ausbricht, wird Government Camp von einem Tsunami überspült."
Der Indianer konnte darüber nicht lachen. "Sie sehen nicht, was ich sehe, weißer Mann. Mir ist in einem Traum erschienen, wie der Mount Hood seinen gewaltigen Schlund öffnet. Nicht heute und nicht morgen, aber an einem der nächsten Tage. Aus der Tiefe seines aufgeheizten Körpers wird loderndes Feuer quellen und alles Lebendige in seiner Reichweite versengen. Wy'east ist sehr wütend. Wenn die bösen Geister auf seiner Seite kämpfen, wird er auch vor Fauen und Kindern nicht haltmachen. Ich habe vier Tage und vier Nächte in den Bergen zum Großen Geist gebetet. Nur deshalb hat er mich vor Wy'east gewarnt..."
"Unsinn!" Der Mann an der Kasse tauschte einen verächtlichen Blick mit dem Fahrer des Kombis und deutete aus dem Fenster. Über den Nebelschwaden konnte man den schneebedeckten Gipfel des Mount Hood in der Ferne glitzern sehen. "Ich habe den Berg die ganze Zeit vor der Nase. Da hat sich nichts verändert. Und wenn, hätten uns die Ranger oder der Sherriff doch längst gewarnt. Schon mal vom CVO gehört?" Er fing einen fragenden Blick des Kombi-Fahrers auf. " Cascades Volcano Observatory. Eine Beoachtungsstation in Vancouver, Waschington. Da registrieren sie jede Veränderungin den Cascades. Die haben so genaue Instrumente, die merken sogar, wenn ein Kiesel in den Krater fällt. Also verschone uns gefälligst mit deinem Geistergeschwätz und geh ins Reservat zurück. Sonst vertreibst du mir noch die Kunden mit deinen Märchen. Geh zu deinen Stammesbrüdern!" Er wandte sich an den Kombi-Fahrer. "Tut mir leid, Mister, aber ich habe hier öfter mit betrunkenen Indianern zu tun. Lassen Sie sich ihren Urlaub nicht vermiesen. Gute Fahrt!"
"Ich habe nichts getrunken und spreche die reine Wahrheit." Der alte Mann mochte wie ein Bettler und Herumtreiber aussehen, hatte sich aber inzwischen erholt, und seine Stimme klang jetzt fest und klar. "Sie müssen mir glauben, weißer Mann! Erinnern Sie sich an den Mount St.Helens? Auch damals hörte niemand auf mich und wenige Tage später rächten sich die Geister mit einer Katastrophe." Er blickte den Mann an der Kasse an. "Sie waren damals schon alt genug. Sie müssen sich doch an die Bilde erinnern. Über sechzig Menschen starben damals bei dem Aufbruch. Wollen Sie, dass es wieder Tote gibt? Lassen Sie mich mit den Rangern telefonieren."
"Das war was anderes",wiegelte der Kassierer ab."Ich sage den Rangern bescheid, wenn ich sie sehe, das muss genügen. Und jetzt mach endlich, das du wegkommst. wenn du noch weiter hir rumlungerst, rufe ich den Sheriff."
Als der Indianer sah,dass er nichts bewirken konnte, verließ er mit müden Schritten den Laden. Er war viel zu sehr mit seinen Gedanken beschäftigt, um die abfälligen Bemerkungen der beiden Männer zu hören.
"Möchte wissen, wen er noch alles mit seinem Hokuspokus nervt",grummelte der Tankwart, als der greise Indianer zum Waldrand hinaufkletterte. Er lachte. "Der Mount Hood bricht aus...so einen ausgemachten Blödsinn hab ich schon lange nicht mehr gehört..."

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