Davor 4

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„Die Lösung ist, glaube ich, 526.", melde ich mich nach einigem Zögern. Herr Sander, mein Mathelehrer, schiebt sich die übergroße Brille auf dem Nasenrücken hoch. Er mustert mich mit seinen Koboldaugen und wiederholt dann: „Sie glauben?" Nach einem zittrigen Nicken meinerseits klatscht er so abrupt in die Hände, dass ich zusammenzucke.

„Wenn Sie ein wenig selbstsicherer wären, kämen Sie sicherlich noch sehr weit, Fräulein Sommer.", meint er. Ich werde rot. Meine übliche Reaktion auf Kritik und überhaupt, wenn dabei eine große Menschenmenge anwesend ist. In diesem Moment stupst mich etwas an. Ein Stift vermutlich.. Ich ignoriere ihn und lasse mein Haar über die Schulter fallen, sodass ein schwarzer Vorhang zwischen mir und dem Störenfried entsteht.

Doch dieser lässt sich nicht abwimmeln. Er sticht wieder zu. Diesmal energischer. Seufzend drehe ich mich auf die Seite und... bevor auch nur ein Laut über meine Lippen kommt, sauge ich die Luft geräuschvoll ein. Er sitzt da. Unglaublich, dass ich es fertig gebracht habe, ihn nicht zu bemerken als ich mich neben ihn gesetzt habe.

Er hat schokoladebraunes Haar, grüne Augen und dieses Grinsen, das einem den Atem raubt. Er trägt eine schwarze Lederjacke, die ihm ein leicht rebellisches Aussehen verleiht. „Hi", flüstert er.

Ich bin verunsichert. Redet er mit mir? Ungläubig deute ich mit dem Finger auf mich und ziehe die Brauen hoch. Er lacht leise und nickt. „Ja, ich habe das Wort an dich gerichtet, mathematikbegabtes Mädchen."

Verwirrt lächle ich. Interessant. Natürlich bricht meine Stimme, als ich mich vorstelle: „Mein Name ist Lia Sommer." Obwohl alle meine Alarmanzeigen in den Gefahrenbereich rücken, ergreife ich seine dargebotene Hand. „Jan Mayer.", meint er. Er will weitersprechen, doch Herr Sander, der ihn aufruft, verlangt ihm alle Aufmerksamkeit ab. Still und leise beobachte ich ihn, während er sich damit abmüht, eine plausible Lösung für den Wirrwarr an Zahlen, die auf die Tafel gekritzelt sind, zu finden.

Ich habe Erbarmen und stecke ihm die Antwort. Sander erlöst ihn und fährt fort. Nach einer kleinen Ewigkeit murmelt er ein Dankeschön.

Die Zeit danachWo Geschichten leben. Entdecke jetzt