Danach 27

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Die Klingel ist mein heutiger, ganz persönlicher Untergang. Genau gesagt ist es Julian, der die Klingel betätigt.

Ich sitze auf meinem Bett und stiere unverwandt auf die kleinen Spiegel an der Wand meines Zimmers. Gerade jetzt kommen sie mir lächerlich vor. Keine Ahnung weshalb, aber ich verspüre das Verlangen, sie alle einzeln von der Wand zu reißen.

Ich höre, wie Oma die Tür öffnet. Meine Mam hat es nicht über sich gebracht, hier zu bleiben und ist deshalb mit Liam weggefahren.

Oma schickt ihn hoch, ich vernehme seine Schritte, die vom dicken Teppich gedämpft werden. Er geht langsam. Ich weiß, dass er sich überwinden muss. Ich mache dasselbe. Ich hindere mich daran, aus dem Fenster zu klettern und so schnell wie möglich, so weit wie möglich wegzurennen.

Dann höre ich das Klopfen.

Er bleibt stehen; Er ist direkt vor meiner Zimmertür angekommen.

Urplötzlich schwankt meine Selbstbeherrschung, die ich die letzten Stunden mit viel Mühe aufgebaut habe. Er dringt in mein Allerheiligstes ein. Ich lasse ihn in meinen Zufluchtsort ein. Er, der einen Teil der Schuld des Verschwindens meiner Lieben aus meinem Leben auf sich trägt.

Er wartet, als kein Zuspruch meinerseits erfolgt.

Er wartet sehr lange, so lange, dass mir aufgeht, dass ihm dieses Treffen sehr am Herzen liegt. Dass es ihm enorm wichtig ist.

Und so erhebe ich mich, durchquere das Zimmer und ziehe die Tür auf.

Er ist da. Julian.

„Hi", flüstert er heiser und unsicher.

„Hallo"

Wir stehen einfach nur da. Und sehen uns an. Meine grauen Augen treffen auf seine dunkelblauen. Seine sind erfüllt von Schuld und... Trauer? Während meine wahrscheinlich einfach nur wütend funkeln.

Schließlich trete ich zur Seite und lasse ihn eintreten. Er stolpert mehr oder weniger in mein Zimmer, froh darüber, etwas zu tun. In der Mitte des Raums bleibt er unschlüssig stehen.

Ich deute auf meinen Ohrensessel. Ich nehme ihm gegenüber auf meinem Bett Platz.

Julian greift in die Tasche, die er mitgebracht hat und zieht einen silbernen Laptop hervor. Er stellt ihn auf den kleinen Glastisch zu seiner Rechten. Während der Laptop auffährt, versucht er, ein Gespräch anzukurbeln.

„Also, ich habe mir überlegt, dass Martha, das ist das Mädchen, das uns verlässt, eine Feier in der Art von einem Abendessen bekommen sollte, das wir alle zusammen kochen. Was hältst du davon?"

„Hm", erwidere ich nichtssagend. Ich muss ihn die ganze Zeit anstarren. Wieso, verdammt noch mal, konnte er seinen betrunkenen Alten nicht einfach nach Hause fahren. War er zu faul? Er wirkt so... nett und ehrlich.

Er lässt sich nicht aus dem Konzept bringen und gestikuliert wild mit den Händen. „Weißt du, es ist wichtig, dass sie weiß, dass sie jederzeit zurückkehren kann und immer jemanden, oder sogar eine ganze Menschengruppe hat, die sie versteht und mag."

Ich kneife die Augen zusammen. Wow, ich kann das hier nicht. Höfliche Konversation mit ihm betreiben, als wäre nichts.

Wortlos stehe ich auf und klappe mit einer Hand seinen Laptop zu. Mit der anderen Hand packe ich seine Tasche, die er am Fußende meines Bettes abgestellt hat, und drücke sie ihm gegen die Brust.

„Tut mir leid. Ich weiß nicht, was sich meine Großmutter dabei gedacht hat. Ich bin noch nicht so weit... Geh bitte, Julian", schnaufe ich und merke, wie mir das Blut in die Wangen schießt.

Ohne Vorwarnung packt er mein Handgelenk.

Meine Augen werden schmal und ich sehe zu ihm auf.

„Lia, du kannst dir gar nicht vorstellen, wie ich mich fühle. Alles, was ich will, ist Verzeihung. Bitte, bitte, vergib mir doch."

Und da ist sie wieder. Ich weiß nicht, ob sie je weg war. Die Wut erfüllt mich von innen heraus und ich stoße ihn ziemlich kräftig von mir.

„Sei still, verdammt noch mal! Und fass mich nie mehr an. Genug, dass du es überhaupt wagst, hier zu sein. Und jetzt geh endlich.", zische ich.

Ein verletzter Ausdruck macht sich auf seinem Gesicht breit. Einen Augenblick starren wir uns einfach an. Ich mit Tränen der Wut in den Augen, er wiederum mit dem Blick eines geprügelten Hundes.

Dann presst er seine Tasche an sich und flüstert, den Blick gesenkt: „Ich werde alles vorbereiten. Du musst mich hier nie mehr sehen, versprochen"

Und dann geht er. Während ich ihm nachblicke, macht sich in meinem Bauch nicht, wie erwartet, Erleichterung breit, nein, es ist ein schlechtes Gefühl. Ich bin enttäuscht. Doch nicht von ihm, eher von mir. Weil ich nicht verzeihen kann und zu schwach dafür bin, über meinen Schatten zu springen.

Diese Erkenntnis schmerzt mehr, als die Tatsache, dass mein Herz schon wieder so schrecklich leer ist.

Die Zeit danachWo Geschichten leben. Entdecke jetzt