Davor 10

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Ich lehne den Kopf an die Türe meines Schließfaches. Tief atme ich durch, konzentriere mich aber dennoch darauf, nicht zu viel Luft in die Lungen zu saugen. Der Gang ist wie leergefegt. Alle Schüler sind bei dieser Ausstellung. Jans Ausstellung mit den neuen Schnappschüssen. Die jährliche Projektarbeit für die er wie ein Verrückter geschuftet hat.

Ich zücke zum tausendsten Mal die bereits zerknitterte Zusage der landesweit besten Schule für darstellende Künste. Ich hatte die Anmeldung letztes Jahr abgeschickt, nicht wissend, was sich in einem Jahr alles ändern kann.

Ich schrecke auf, als mir jemand auf die Schulter tippt. Hastig verstaue ich den Brief in der Gesäßtasche meiner Jeans. Ich erkenne Nick Fishers warme whiskeybraune Augen. Er lächelt ständig. Ich muss zugeben, dass mir Menschen, die pausenlos grinsen wie Honigkuchenpferde ein wenig suspekt sind.

Doch bei Nick ist es einfach natürlich, dass er ein glücklicher Mensch ist. Er drückt meine Schultern und ich fühle mich einfach... besser. Abgesehen davon, dass er in erster Linie Jans bester Freund ist, ist er auch einer meiner engsten Vertrauten.

„Weißt du, Jan ist manchmal ein wenig zu fixiert auf die Ziele, die er sich steckt. Er setzt sich zu sehr unter Druck. Normalerweise hätte er schon vor zwei Wochen durchdrehen sollen. Du tust ihm auf eigenartige Weise gut. Beruhigst ihn. Das ist etwas, auf das du stolz sein kannst, Lia.", er sucht nach Worten, „Ich meine damit, dass es für mich schön anzusehen ist, dass auch er jemanden hat, nach all dem Dreck, den er durchgemacht hat. Verstehst du?"

Er denkt, dass ich unglücklich darüber bin, dass Jan in der letzten Woche weniger Zeit für mich hatte. Na ja, Irrtum, würde ich sagen. Ich bin froh, dass ich nicht die ganze Zeit dieses anstrengende Pokerface aufrechterhalten musste.

Ich nicke trotzdem, schlucke den Kloss in meinem Hals hinunter und straffe die Schultern. Innerlich bereite ich mich darauf, kein einziges Wort über die Zusage zu verlieren. Ich hake mich bei Nick ein und lasse mich von ihm zur Turnhalle ziehen. Durch eines der weitläufigen Fenster sehe ich ihn. Unruhig streift er zwischen diversen Staffeleien mit angepinnten Fotografien umher.

Für das, dass keine Anwesenheitspflicht herrscht, ist ein beträchtlicher Teil der Schülerschaft gekommen. Vor dem Eingang drückt Nick noch einmal beruhigend meine Schulter, dann hält er mir die Tür auf.

Ich durchquere die Turnhalle, bleibe eine Staffelei vor Jan stehen. Er unterhält sich gerade mit unserem Kunstlehrer, Herr Mohnblum. Ich störe ihn nicht. Betrachte das Bild. Und sehe es gleichzeitig doch nicht an. Ich höre mir an, wie Mohnblum ihn lobt. Ihm sagt, er hätte etwas Wundervolles fabriziert. Jan kehrt es unter den Tisch. So verlegen habe ich ihn noch nie erlebt. Ich muss schmunzeln, weil ich aus dem Augenwinkel wahrnehme, wie er sich immer wieder durchs Haar streicht. Das ist natürlich typisch Jan; Auch wenn er aussieht, als könne ihn kein Wasser trüben, hat er diesen einen Tick, an dem ich ablesen kann, dass er innerlich vor Aufregung beinahe umkommt.

Als Mohnblum abzieht, bemerke ich, wie er einige tiefe Atemzüge nimmt. Ich könnte sogar schwören, dass er sich selbst Ermutigungen zuwispert.

Es dauert seine Zeit, bis Jan mich bemerkt, doch sobald er es tut, schlendert er zu mir hin und beäugt ebenfalls das Foto. Eine kleine Weile stehen wir still da.

„Weißt du, was darauf zu sehen ist, Lia?", will er wissen.

Ich schaue ihn von der Seite an. Als er nicht zurückblickt, richte ich meine volle Aufmerksamkeit auf das Foto. „Nein.", sage ich, neugierig geworden jetzt.

„Du", kommt die Antwort wie aus der Pistole geschossen. Ich kneife die Augen zusammen, mustere das Foto genauer. Und ja. Es ist möglich, dass das meine schwarzen Haare sind. Auch wenn sie nur ein verschwommener Schweif sind, weil ich mich wohl zu schnell bewegt habe. Und auf einmal erkenne ich auch die Kulisse wieder. Wir sind auf der Klippe. Ich erinnere mich sogar daran, dass er ein Foto geschossen hat.

Plötzlich werde ich von hinten umarmt und mir wird ein stürmischer Kuss auf den Hals gedrückt. „Herzlichen Glückwunsch Süße!", kiekst Karlie in mein Ohr. „Ich habe doch gesagt, die Schule nimmt dich an. Deine Mam hat's mir eben am Telefon gesagt. Ich wollte es zwar von dir erfahren, aber sei's drum. Ich bin so wahnsinnig stolz auf dich!"

Sie hat sich den Zettel, die Zusage von der Schule, aus meiner Hosentasche geschnappt und liest ihn jetzt voller Stolz laut vor. Ich schließe verzweifelt die Augen und bitte Karlie, dass sie es lassen soll. Jan weiß nichts davon. Als ich die Augen öffne, um seine Reaktion zu sehen, ist er erstaunlicherweise wie vom Erdboden verschluckt. Ich drehe mich einmal um die eigene Achse, doch ich kann ihn nicht entdecken.

Die Zeit danachWo Geschichten leben. Entdecke jetzt