„Süße, es ist Pia!", ruft meine Mam das Treppenhaus herauf, und leiser, an meine Selbsthilfegenossin gerichtet, „Komm doch rein, Liebes"
Schon wieder Pia Braun?
Ich zwinge mich, nicht genervt aufzustöhnen.
Schön und gut, dass sie mir bei der Gruppe zur Seite steht, aber dass sie mir jede Minute auf die Pelle rückt...
Ich sitze an meinem Schreibtisch, an dem ich bis jetzt Hausaufgaben erledigt habe. Die Sonne scheint, beinahe schon zu heiß für die Frühlingszeit, durch meine Zimmerfenster. Ich hasse es, bedrängt zu werden.
Kurze Zeit später sitzt sie auch schon auf meinem Ohrensessel. Zurzeit wird er weniger von mir, als von meinem Besuch benutzt.
Pias weißblonde Haare sind zu einem Zopf gebunden und sie trägt, wie immer, ein beinahe schon ausgefallen kunterbuntes Kleid, das ihr bis zu den Knien reicht und bonbonrosa Strumpfhosen.
Ich ziehe die Augenbrauen leicht hoch und stelle so eine unausgesprochene Frage in den Raum. Weshalb bist du hier? Oder besser: Wieso verdammt noch mal nervst du mich in meinen eigenen vier Wänden?
„Hallo Lia!", sagt sie unnötigerweise, weil wir uns vorher schon einmal begrüßt haben. „Ich wollte nur mal sehen, ob du noch lebst.", witzelt sie und lächelt dabei breit.
Uh, wie ich es hasse, wenn Leute in meiner Nähe Scherze über den Tod machen. Trotzdem schenke ich ihr ein halbherziges Lächeln. Es ist nett von ihr, ab und an nach mir zu schauen, obwohl es in meinen Augen einfach überflüssig ist. Ich nehme an den Gruppensitzungen teil, versuche Julian so gut, wie es eben geht, zu ignorieren und... vegetiere so vor mich hin. Lebe einfach und unspektakulär. Und zwar allein. Und ich bin mächtig zufrieden damit.
„Also, Julian sagte, er müsse alles alleine vorbereiten, und da dachte ich mir, ich spiele Botin und bringe dir einige seiner Vorschläge, damit du dich auch nützlich machen kannst. Was hältst du davon?"
HACH ICH HASSE DIESE BESCHEUERTE SELBSTHILFEGRUPPE UND IHRE VERBLÖDETEN, BEGRIFFSSTUTZIGEN, UNHEIMLICH FREUNDLICHEN MITGLIEDER!!!
Das hätte ich am liebsten geschrien. Aber ich weiß, dass es mir im gleichen Moment schrecklich leidgetan hätte, in dem ich diese Worte in den Mund genommen hätte, also sage ich freundlich: „Ja, das ist eine tolle Idee, danke, Pia."
Es klopft kurz und meine Mutter tritt ein. Sie hält ein Tablett mit Keksen und Tee in den Händen, was mich zugegebenermaßen, ein wenig irritiert. Mam ist gar nicht der Typ für Hausarbeiten. Es ist schon ein Wunder, wenn sie die Kaffeemaschine selbst anwirft.
„Ich dachte, ich hole euch Kindern etwas zu Knabbern.", trällert sie und setzt alles auf dem Glastisch ab. Ich erwarte, dass sie wieder geht, doch nichts da – Sie besteht darauf, uns die heißen Getränke selbst zuzubereiten.
„Willst du Zucker und Zitrone in deinen Tee, Karla-Louisa?", will sie freudestrahlend wissen.
Noch bevor ihr aufgeht, was sie eben gesagt hat, bin ich schon aus dem Raum verschwunden. Ich hetzte die Treppe hinunter und flitze aus der Tür heraus ins Freie.
Sie hat Pia mit Karlies Namen angesprochen. Eigentlich sollte man denken, dass ich nach einem halben Jahr langsam, aber sicher immun gegen ihre Namen bin, doch ich bin es nicht. Werde es wohl nie sein.
Ich schlinge die Arme um mich, ein Versuch, mich zusammenzuhalten. Tränen sammeln sich in meinen Augen und laufen über. Ich fühle mich wie im Winter, eine Woche, nachdem es passiert ist. Und diesmal ist es anders, wie als ich im Schlafanzug, im tiefsten Winter zur Klippe gestolpert bin, um mich Jan wieder nah zu fühlen. Ich weiß nicht, ob ich damals gesprungen wäre, wäre ich nicht auf dem nassen Stein ausgerutscht.
Diesmal bin ich mir völlig bewusst, weshalb ich dort hingehe. Nicht, um mich umzubringen, oder derartiges. Eher um einen klaren Kopf zu bekommen und wieder alle fünf Sinne zusammenzubekommen.
Zuerst schlage ich die Richtung zum Strand ein, nur um dann in einen steilen, in den Fels geschlagenen Weg abzubiegen.
Und schon bin ich da. Schneller, als ich es in Erinnerung habe. Ich hocke mich auf den lauwarmen Stein und streiche mit den Händen über raue Oberfläche des Schiefersteins. Es ist beinahe schon seltsam, welche Ruhe dieser Ort ausstrahlt. Im Gegensatz zum letzten, nebligen Winter, kann man das Meer vollständig sehen.
Die Sonne steht hoch am, zur Abwechslung mal blauen, Himmel.
Ich sinke zurück und zähle einzelne kleine weiße Wolken. Das hat eine unverhofft entspannende Wirkung auf mich und ich kann spüren, dass sich mein Herzschlag beruhigt.
Plötzlich kommt mir meine vorherige Aktion unreif und schwach vor. Ich bin nicht mehr wütend auf meine Mutter, oder Pia. Der Knoten, der in meinem Magen war, ist weg. Und ich fühle mich seltsam befreit.
Trotzdem ist da dieser leise Gedanke, der ruft, dass Pia Karlie ersetzen will. Und wie ich es über mich bringen kann, die beste Freundin, die ich je hatte, ohne weiteres abzuschreiben.
Ich bin nicht in der Lage, es abzustellen. Immer mehr Stimmen in meinem Kopf verschaffen sich Gehör.
„Du darfst Jan nicht vergessen!", schreit die eine entsetzt.
Eine andere ist grausam kalt und logisch, sie appelliert an meine Vernunft: „Um dein Leben weiter zu leben, musst du sie aus deinen Gedanken streichen."
Und wieder eine andere argumentiert mit Oma' Stimme, dass alles recht sei, um meine Seele zu reinigen.
Verwirrt schließe ich die Augen und drifte in einen unruhigen, traumlosen Schlaf.
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Die Zeit danach
JugendliteraturLiebe. Glück. Freude. Trauer. Leidenschaft. Melancholie. Verlassenheit. Hoffnung.... Jedes dieser Gefühle hat es in diese Geschichte geschafft. Zu viel will ich eigentlich nicht verraten. Lest sie selbst und bildet euch ein eigenes Urteil. ******* D...