Davor 8

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„Weißt du, was mich an dir stört?", zischt Leon Frost wütend. Ich starre ihn zornig an. „Was? Sag schon!", fordere ich ihn auf.

Das Scheinwerferlicht blendet mich. Ich stehe auf der Theaterbühne, Premiere des Stücks, an dem ich gemeinsam mit meiner Theatergruppe wochenlang herumgefeilt und -geschrieben habe. Ich spiele die Geraldine, ein Mädchen mit dem Traum die gesamte Welt zu bereisen. Leon verkörpert Geraldines Geliebter, der sich nicht damit abfinden kann, Geraldine zu verlieren.

Leon tritt ganz nah an mich heran. Während er spricht, besprüht er mich mit Spucke. Ich lasse mir nichts anmerken. Er ist nervös. Im Gegenteil zu mir. Ich blühe auf, wenn ich in meiner Rolle aufgehe. Ich lasse mich von Geraldine lenken. Es ist, als wäre es auch mein sehnlichster Wunsch, von Land zu Land zu reisen, andere Kulturen hautnah zu erleben, Menschen mit völlig anderen Vorstellungen vom Leben anzutreffen.

„Dass du so egoistisch bist. Immer muss alles nach dir gehen. Du denkst weder an mich noch an das Leben, das wir führen könnten. Du gehst lieber auf Thailand oder Brasilien, als mich zu heiraten. Das ist so... so... herzlos."

Ich schlage mir entrüstet die Hand vor den Mund. Echte Tränen kullern über meine Wangen. „Ich bin herzlos, sagst du? Du lässt mich meine Träume nicht ausleben, sperrst mich lieber in einen Käfig, als mich in die Welt zu entlassen. Vielleicht sogar mitzukommen. Du liebst mich nicht. Du willst mich besitzen.", schluchze ich.

Nick hat soeben sein Stichwort verpasst. Ich werfe einen Blick hinter die Bühne, kann ihn jedoch nirgends entdecken. Damit keine peinliche Pause entsteht, werfe ich mich auf den Boden und improvisiere: „Du bist zugleich das Beste wie auch das Schlechteste, was mir je passiert ist."

Ich spüre Leons verzweifelten Blick auf mir, packe sein Hände und zerre ihn zu mir auf den Boden. Wenn er wie ein Trottel da steht, bemerkt das Publikum sicherlich unsere Panne. Ich lasse Nicks wenige Sätze in den Dialog einfließen.

Herr Forster, der Theaterlehrer, nickt mir anerkennend zu. Und schon fällt der Vorhang. Leon hilft mir auf die Beine. „Gut gerettet.", raunt er mir dankbar zu. Ich schenke ihm ein Lächeln. Dann drehe ich mich um und spähe durch den Vorhang. Die beiden vorderen Plätze, die ich Karlie und Jan reserviert habe sind noch immer verwaist. Ich habe vermutet, dass Jan die Vorstellung verpassen würde aber Karlie... Sie hat noch keine einzige meiner Aufführungen ausgelassen. Ich bin ein wenig besorgt.

Ein energisches Winken erregt meine Aufmerksamkeit. Mam. Sie streckt beide Daumen in die Luft und hüpft auf ihrem Stuhl auf und ab. Ich muss unwillkürlich lachen. Sie hat noch immer ihre Malsachen an. Ihr T-Shirt ist über und über mit Farbe bekleckert. Neben ihr erblicke ich Liam, ihren Freund. Auch er winkt mir zu. Etwas zurückhaltender jedoch. Meine Mam ist die Ausgeflippte in dieser Beziehung.

In diesem Moment passieren zwei Dinge gleichzeitig. Während Mam einen Anruf entgegen nimmt, wird die Hintertür des kleinen Theaterraums aufgerissen und Nick, Jans bester Freund, stürmt herein. Er schiebt sich an Herr Forster vorbei und rennt geradewegs auf mich zu. Er ist aufgelöst, außer Atem, sodass ich ihn nur schwerlich verstehe.

„Es... Es tut mir so, so, so leid, Lia. So unvorstellbar leid.", keucht er. In seinen Augen sehe ich Tränen glitzern. Ich verstehe gar nichts. Ich packe seine Arme. „Was.", verlange ich zu wissen, „Was tut dir leid, Nick?"

Er holt tief Luft. Doch bevor er auch nur einen Laut über die Lippen bringt, weiß ich, dass es so schlimm ist, dass ich es gar nicht wissen will. Ich drehe mich um, schaue zu meiner Mam, die noch immer das Handy an ihr Ohr gepresst hat. Auch von weitem sehe ich, dass sie sich hektisch und tränenaufgelöst mit jemandem unterhält.

Ich wirble herum und lausche den Worten Nicks, die nun nicht mehr aufzuhalten sind. Unbarmherzig erklärt er mir, weshalb er von der Hauptstraße bis hier hin gerannt ist. Weshalb er mich unbedingt sprechen musste, bevor es auch nur eine einzige Person vor mir erfährt.

„Er... Jan hat Karlie mitgenommen. Auf dem Motorrad. Und dann war da der Truck. Er hat ihn nicht gesehen. Er... Der Truck ist viel zu schnell gefahren. Viel zu schnell. Und dann war da der Zusammenprall. Es tut mir so lei-... Lia?"

Ich habe eine Hand gehoben, die andere presse ich mir auf den Magen. Ich will es nicht hören. Will es nicht einmal denken. Mir ist schlecht. Nick hebt hilflos die Arme in meine Richtung. Ich weiche zurück, einen Schritt nach dem anderen, bis ich die Wand an meinem Rücken spüre und daran herunterrutsche.

Die restliche Theatergruppe hat uns die Köpfe zugewandt. Ich sehe Mitleid, überall dieses unerträgliche Mitleid. Ich blicke zu Nick auf. Der Entsetzte auf seinem Gesicht spiegelt vermutlich den wieder, der auch auf meinem Gesicht zu erkennen ist. Er fällt vor mir auf die Knie und bricht in Tränen aus. Ich sehe, dass er die Worte mit seinem Mund formt, doch nichts davon ergibt einen Sinn.

„Sie ist tot. Karlie. Lia, es tut mir leid.", schluchzt er.

„Was ist mit Jan?", frage ich mit zitternder Stimme.

Jetzt scheint er verlegen zu sein. „Der Krankenwagen ist auf dem Weg...", druckst er herum.

„Wo ist er, Nicklas?", herrsche ich ihn an.

„Er... Unten auf der Hauptstrasse. Habe den Krankenwagen geruf...-"

Ich will nicht wütend sein. Nicht auf ihn, eher auf die Welt. „Sei still!", herrsche ich ihn an, „Halt deine verdammte Klappe, Niklas. Du hast ihn verdammt noch mal alleine gelassen? Sei still, du Vollidiot." Am Ende des Satzes bricht meine Stimme und ich weine. Weine. Und weine.

Ich springe auf und dränge mich an ihm vorbei in Richtung Ausgang. Am Rande nehme ich wahr, wie jemand versucht, mich am Handgelenk zu packen, doch ich reiße mich grob los und stürme aus dem Raum.

Nicht an Karlie denken, ermahne ich mich. Jan braucht mich jetzt. Für ihn gibt es noch Hoffnung. Nicht an Karlie denken. Nicht an Karlie denken. Es wird zum Mantra. Ich wiederhole es immer wieder, während ich renne, bis mein Lungen brennen.

Nicht an Karlie denken.

Die Zeit danachWo Geschichten leben. Entdecke jetzt