Danach 11

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„Nun, Lianna. Könntest du dich uns bitte vorstellen?"

Er spricht es wie eine Frage aus, doch ich weiß, es ist eine Aufforderung, ein Befehl. Zwar habe ich die Wahl, ob ich mich bei dieser Selbsthilfegruppe beteiligen möchte, doch ich ahne, dass er mit meiner Mam telefoniert, wenn ich mich weigere, und das will ich nicht. Ich will dass sie denkt, dass ich mich auf dem Weg zur Besserung befinde. Auch wenn ich mich innerlich leer und ausgelaugt fühle.

Ich stehe auf, schiebe meinen Stuhl geräuschvoll nach hinten und blicke sie alle der Reihe nach an. Alle, die das Gleiche wie ich durchgemacht haben. Ihnen allen ist ein geliebter Mensch entrissen worden.

„Ich bin Lia Sommer. Ich bin sechzehn Jahre alt. Meine Lieblingsfarbe ist blau.", rattere ich herunter.

Vereinzeltes Gekicher im Kreis ertönt. Etwas irritierend, dass hier jemandem nach Lachen zumute ist. Zumal das hier eine Selbsthilfegruppe für Menschen ist, die die Trauer nicht alleine aushalten.

Ich setzte mich wieder und starre Aaron, den Gruppenleiter, herausfordernd an. Doch dieser verzieht keine Miene. „Wen hast du verloren, Lia?", fragt er sanft.

Ich schüttle den Kopf. Mir wird schlecht. „Ich will noch nicht darüber reden." Auch nicht daran denken. Ich will mich irgendwo verkriechen. Irgendwo, wo ich nicht ständig an sie erinnert werde.

Aaron nickt mir zu. „Ich respektiere das.", sagt er, „Doch ich will, dass du weißt, dass du dich nicht auf ewig verstecken kannst. Irgendwann musst du dich der Vergangenheit stellen. Und es wäre besser, wenn du dann nicht alleine bist. Sondern deine Last mit jemandem teilen kannst wie unserer Gruppe."

Ich verschränke die Arme. Schweigend sitze ich da. Ich weiß, dass das, was er sagt, der Wahrheit entspricht. Aber heute, an diesem Tag, in diesem Moment, kann ich ihre Namen nicht aussprechen. Ich kann nicht von ihnen in der Vergangenheit reden. Als wären sie Teil eines früheren Lebens. Es tut mir im Herzen weh.

Aaron nickt dem älteren Mädchen neben mir zu und diese erhebt sich ohne zu zögern. „Mein Name ist Pia Braun. Ich bin jetzt schon ein Jahr in dieser Gruppe. Meine Schwester starb vor genau dreizehn Monaten. Und es ist noch immer so, als wäre es gestern gewesen."

Aaron nickt, stellt Fragen zu ihrem Wohlergehen, ob sich langsam eine Verbesserung zeigt. Pia bejaht alle seine Fragen, macht sogar einige Scherze. Doch ich kann ihr ansehen, dass sie noch immer leidet. Ihr Lachen wirkt gekünstelt, die Witze gezwungen.

Ich frage mich unweigerlich, ob ich in einem Jahr auch an diesem Punkt bin. Ob ich je über sie hinwegkommen werde. Oder wie Pia alle in meiner Gegenwart täuschen muss. Jedes Lächeln enormer Willenskraft bedürfen wird. Noch immer jede Erinnerung schmerzen wird.

Unwillkürlich lege ich Pia eine Hand auf den Rücken. Überrascht wirft sie mir einen Blick zu. Als sie mein Verständnis sieht, schenkt sie mir ein trauriges Lächeln. „Es tut mir leid", flüstere ich ihr zu. Sie nickt ernst.

Als ich Aaron anblicke, bemerke ich doch tatsächlich ein erleichtertes Lächeln in seinem milchigen Gesicht. Er neigt den Kopf. Fast so, als wäre er mir dankbar. Ich nicke ihm zu und er macht weiter. Eine Leidensgeschichte nach der anderen folgt. Ehrlich gesagt fühle ich mich nach all dem Schmerz und Leid gerädert. Am Schluss, als wir uns alle voneinander verabschieden, ist es, als kenne ich sie nun persönlich. Und auf seltsame Weise ist es beruhigend, nicht alleine zu sein.

Vielleicht klingt das sadistisch oder schadenfreudig, aber ich bin auf eine seltsame Weise froh darüber, dass ich nicht die Einzige bin, der es schlecht geht. Dass andere auch leiden müssen, es nicht an mir hängen bleibt, bemitleidet zu werden. Ich wünsche zwar jedem, der hier anwesend ist ein anderes Schicksal und doch auf der anderen Seite wieder nicht, weil ich jemanden auf der Welt wissen will, der das Gleiche wie ich durchmacht. Ich bin verrückt. Und bösartig.

Zu diesem Zeitpunkt habe ich das erste Mal wirklich das Gefühl, nicht in Selbstmitleid zu zerfließen; ich denke gerade nicht daran, welch schweren Verlust ich erlitten habe. Viel eher, dass ich nicht die Einzige bin, die so etwas verkraften muss.

Es ist ehrlich gesagt kein gutes Gefühl.

Nur ein tröstlicher Gedanke.

Die Zeit danachWo Geschichten leben. Entdecke jetzt