Danach 49

20 6 0
                                    

Herr Forster sieht mich aufmunternd an. Ich nicke.

Ich kann das. Ich konnte es schon immer. Man könnte sagen, es ist das Einzige, was ich je von Anfang an beherrscht habe. Ich musste es nie erlernen, oder üben. Ich konnte es einfach. Meine Passion. Meine Leidenschaft.

Schon klar - Die Dialoge brauchten ihre Zeit, bis sie sich in meinem Gehirn eingebrannt hatten, sodass ich sie auswendig vortragen konnte.

Aber das Schauspielern, das Spiel der Mimik im Gesicht, die einem in einen Moment die Tränen in die Augen treibt und dann, urplötzlich, ein lautes Lachen entlockt...

Die wahre Kunst, die einen Schauspieler ausmacht, hatte ich vor langer Zeit verinnerlicht und seitdem nicht mehr losgelassen.

Ich trete ins Scheinwerferlicht. Es blendet mich. Doch das stört mich nicht. Es ist angenehm gewohnt.

Ich zittere nicht. Ich bin die Ruhe selbst als ich mit meinem Dialog beginne. Es ist totenstill im Theatersaal.

Ich registriere die neugierigen Blicke der Zuschauer. Die Spannung ist greifbar.

Ich bin erstaunt, dass ich bei dem Gedanken, dass sie alle nur gekommen sind, um mich zu begaffen, nicht verärgert bin.

Im Gegenteil; freudige Erregung über das zusätzliche Publikum durchströmt mich.

Ich lege alles, was mich die letzten Monate geprägt hat, in meine folgenden Worte.

Vollkommene Glückseligkeit, als ich pausenlos lächeln konnte.

Tiefe Traurigkeit, die lange Zeit auf meinen Schultern lastete.

Zarte Hoffnung, die mich an eine bessere Zukunft denken lässt.

Ich lasse mich von den Worten tragen.

Ich erzähle und erzähle.

Während sich die Sätze wie von selbst bilden, ertappe ich mich dabei, dass ich den vorgegebenen Dialog verlasse, beginne, von mir zu erzählen.

Die Empfindungen, von denen ich dachte, dass sie schon lange verschlossen, nur noch in Erinnerungen von Früher existierten, leben auf, heben mich immer höher und höher...

Mittlerweile laufen mir Tränen über die Wangen und ein Gefühl der Erleichterung macht sich in meinem Bauch breit.

Ich erzählte von Karlie.

Dass ich manchmal so sein wollte, wie sie, was ich mir nie eingestehen konnte. Dass ich immer auf sie zählen konnte, ich immer einen Fixpunkt auf dieser Welt hatte. Was es für mich bedeutete, sie zu verlieren. Als hätte man mir das Herz herausgerissen...

Ich spreche über Jan.

Meine erste Liebe. Wie ich mich fühlte... Diese Leichtigkeit, dieses Gefühl, nicht alleine zu sein. Jederzeit jemanden zu haben, der einen genau so sehr liebte, wie man ihn. Das Gefühl, schwerelos zu sein.

Dass sie nicht mehr sind, hat mir kleine Stücke meiner Seele abverlangt. Ich werde diese verlorenen Stücke niemals wieder anderswertig ersetzten können. Es wird auf immer schmerzen, wenn ich an meine verlorenen Freunde denke. Das ist sicher.

Doch mit der Zeit wird der Schmerz schwächer werden. Erträglich. Davon bin ich überzeugt.

Zum Schluss rede ich von Oma.

Ich erwähne ihren Eintopf, von dem man sogar noch eine Woche später etwas hatte.

Ihre Schürze, die auf wundersame Weise immer perlweiß blieb.

Wenn Karlie und ich sie wegen ihres etwas eigenwilligen Tanzstils neckten und sie uns Paroli bot, im Sinne von sanften Klapsen mit ihrer Lieblingswaffe, der Suppenkelle.

Wie sie mich wieder aufbaute, als ich quasi ein Trümmerfeld an zerstörten Emotionen war...

Das alles hat mich zu dem Menschen gemacht, der ich heute bin.

Jan und Karlie waren zweifellos die Menschen, mit denen ich am meisten verbunden war.

Doch meine Oma... Sie ist gemeinsam mit meiner Mam meine Familie. Mein Ruhepol, der mich stets auf den Boden der Tatsachen zurückholt, wenn ich zu weit in den Wolken schwebe, oder der mich aus dem tiefsten schwärzesten Loch hinauf in die Sonne zieht.

Ich ende und verbeuge mich.

Zögerliches Klatschen. Als wären die Leute in einem Bann gefangen.

Dann - Aufbrandender Applaus.

Ich lache und wische mir die Tränen aus den Augen.

Weit hinten im Theatersaal erkenne ich Aaron. Neben ihm stehen Pia und Julian. Alle klatschen begeistert Beifall.

Ich sehe Lars und Nick. Beide sind sprachlos. Aber auf diese gute Art, wenn etwas komplett Unerwartetes passiert, bei dem man in der ersten Schrecksekunde einfach laut loslachen könnte.

Neben Lars entdecke ich meine Mam.

Sie hat einen Arm um Liams Mitte geschlungen und lächelt unter Tränen. Als ich ihr zögerlich zuwinke, nickt sie mir stolz und anerkennend zu.

Neben der Bühne, beinahe versteckt im Halbdunkel, mache ich Herrn Forster aus. Er unterhält sich mit einer älteren Dame, die bei meinem Auftritt in der ersten Reihe saß.

Während ich auf der Bühne stand, hatte sie sich hektisch Notizen auf ihr Klemmbrett gemacht.

Während ich sie mustere, schaut sie hoch, sodass sich unsere Blicke treffen. Sie nickt mir zu, legt Herrn Forster die Hand auf den Arm um sich zu verabschieden und geht.

Vorher war ich die Ruhe selbst, doch jetzt, als ich das Nicken dieser Frau sehe, ist mir, als würden alle meine Knochen aus meinem Körper entfernt.

Ich denke schon, dass ich an Ort und Stelle zusammenbreche, als sich ein Arm um meine Taille legt.

Verwundert schaue hoch, nur um in Pias funkelnde Augen zu blicken. Sie stützt mich.

Ich lächle sie an. Und sie lächelt zurück.

Herrn Forster besteigt die Bühne und versucht, das Publikum zu beruhigen.

Es verursacht ein Prickeln in meinem Bauch, dass er mehrere Anläufe dazu benötigt.

Als sich jedoch die Stille über dem Theatersaal legt, verkündet er mit roten Wangen und glänzenden Augen: „Meine Damen und Herren; Lia Sommer, Empfängerin des Stipendiums für die Hochschule der Darstellenden Künste. Lia wird in diesem Sommer ihr erstes Jahr antreten. Applaus für diese talentierte junge Frau."

Er wedelt auffordernd mit beiden Händen in der Luft herum.

Erst begreife ich nicht, was er eben gesagt hat.

Pias Gekreische ist ohrenbetäubend. Sie hüpft auf und ab vor Aufregung.

Ich hatte diese Ahnung, dass der heutige Auftritt wichtig sein würde. Aber dass er über meine Zukunft entscheiden würde...

Ich habe es. Das Stipendium. Mein Lebenstraum, mein Ziel, auf dem jahrelang mein Fokus war. Ich habe es erreicht.

Ich schlage mir die Hand vor den Mund und kann erst nichts gegen den Tränenschleier tun, der meine Sicht verschwimmen lässt.

Mein Mund wird ganz trocken.

Dieses Gefühl, welches sich in diesem Augenblick in meinem Bauch breit macht, ist wohlig warm. Es sagt mir, dass ich das Größte vollbracht habe, was ich mir vorstellen kann; Ich bin über mich hinausgewachsen. Bin grösser geworden, gewachsen an dieser Erfahrung.

Ich habe Krisen und Rückschläge überwunden und mich auf eine Bühne gestellt, um dies jedem mittzuteilen, den ich kenne. Noch vor einem halben Jahr ist mir das wie eine schiere Unmöglichkeit erschienen.

Doch ich habe gesiegt.

Habe die Selbstzweifel und den Hass bezwungen.

Habe gekämpft.

Und ich habe meine verfluchte Seele befreit, um das zu wiederholen, was ich mir damals bei Omas Worten abfällig geschworen habe.

Die Zeit danachWo Geschichten leben. Entdecke jetzt