Danach 9

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Meine Augenlider flattern als ich in die grelle Neonröhre über mir blicke. Wo bin ich? Bin ich tot? Warum fühlt sich mein Kopf so an, als wäre er gegen eine Bordsteinkante geknallt?

Ich räuspere mich leicht und stöhne versuchsweise. „Hallo?", krächze ich in den Raum. Ich drehe den Kopf und mustere das Zimmer, in dem ich mich befinde. Es ist spärlich eingerichtet. Nur ein weißer Sessel, ein Nachttisch mit einer Blumenvase und ein paar wenige gerahmte Bilder an den Wänden. Der Raum strahlt eine Sterilität aus, wie es nur ein Krankenhauszimmer kann. Auf dem Sessel entdecke ich meine schlafende Mam.

Plötzlich wird die Tür aufgedrückt und ich stelle mich schleunigst schlafend. Meine Mam reckt sich und murmelt eine Begrüßung. „Guten Tag, Frau Sommer.", flüstert der Neuankömmling.

Ich kenne die Stimme, sie gehört Nick Fisher. „Wie geht es ihr?", fragt er und tritt an mein Bett. Ich spüre seine Hand, die die meine ergreift. Meine Mam antwortet mit trauriger Stimme: „Nicht gut, Niklas. Gar nicht gut. Zweifellos war das auf der Klippe ein Selbstm...", ihre Stimme bricht an dieser Stelle. Sie holt tief Luft. „Seit Karla-Louisa und Jan... Seit dem Vergangenen isst sie kaum noch. Lacht nicht mehr. Meinem kleinen Mädchen geht es nicht gut."

Nicks Griff wird fester. „Ich weiß, von was Sie reden.", murmelt er. „Mir ist genauso zumute. Aber für Lia... Die beiden waren so ziemlich die wichtigsten Menschen in ihrem Leben."

In seiner Stimme schwingt sowohl Verständnis wie auch Besorgnis mit. Gerade als ich beschließe, offiziell wach zu werden, sagt meine Mam etwas, das mein Herz schneller schlagen lässt. Vor Angst „Ich weiß nicht, was ich tun soll. Soll ich sie als gescheiterter Suizid in Therapie geben lassen? Oder muss sie zu ihrem eigenen Schutz irgendwo unter Überwachung wohnen? Momentan kann ich nichts tun, gar nichts."

„Doch natürlich können Sie etwas tun", meint Nick mit einer Festigkeit in der Stimme, die ich ihm nicht zugetraut hätte, „Sie können da sein. Lia hat gerade das Gefühl, völlig alleine zu sein. Wir müssen ihr zeigen, dass das nicht stimmt, und dass sie sich auf uns verlassen kann und wir nicht so schnell fortgehen. Ich würde sie nicht unter Druck setzten. Es ist noch zu frisch. Aber Sie können da sein, wenn sie aufwacht. Das hilft ihr, glaube ich, im Moment am meisten weiter."

Nicks Hand verschwindet, und somit die tröstliche Wärme. Er geht um das Bett herum. Mein Gefühl sagt mir, dass er gerade die Schultern meiner Mutter drückt. Das tut er immer, wenn jemand in seiner Nähe traurig ist. Oder, im Falle meiner Mutter, am Boden zerstört.

Die Zeit danachWo Geschichten leben. Entdecke jetzt