Danach 23

18 6 1
                                    

Aaron quittiert mein Erscheinen mit einem kaum merklichen Nicken. Pia klopft auf den freien Stuhl neben sich und lächelt mir aufmunternd zu.

Ich setze mich und wende meine Aufmerksamkeit Aaron zu, der sich erhoben hat. „Heißt mit mir unser neues Mittglied willkommen.", fordert er uns auf und nickt in meine Richtung. Ich schaue mich verwundert um. Der blonde Junge neben mir wird rot. Er räuspert sich verlegen und steht auf.

„Also, ähm ich bin Julian", sagt er und tritt von einem Fuß auf den anderen, als ob es ihm peinlich wäre, angestarrt zu werden.

Aaron nickt freundlich und meint dann, mit seiner nervigen, typisch sanften Stimme: „Wen hast du verloren, Julian?"

Der Standardsatz. Julians Stirn runzelt sich. „Ich habe meinen Vater bei einem Autounfall verloren.", flüstert er heiser, „Er ist betrunken gefahren. Beim Unfall war er nicht das einzige Opfer. Er hat jemanden angefahren."

Er kratzt sich am Hinterkopf und mustert uns der Reihe nach. So musste ich auch ausgesehen haben. Ein wenig misstrauisch, ob ich dieser Gruppe auch nur ein Quantum Vertrauen schenken konnte.

Man sieht, wie es in ihm arbeitet. Wahrscheinlich kommt er zum Schluss, dass er uns vertrauen kann, jedenfalls erzählt er weiter: „Ich fühle mich schlecht, wenn ich ihn vermisse. Ich meine, ohne ihn würden die anderen zwei Menschen noch leben, die nur zur falschen Zeit am falschen Ort waren. Aber... Er war immerhin mein Vater. Auch wenn wir nur gestritten haben..."

Es ist, als spreche er nicht mehr zu uns, sondern zu sich selbst. „Mir wird immer ganz Elend zu Mute, wenn ich daran denke, dass er mich angerufen hat, mich gebeten hat, ich solle ihn doch bitte abholen, und ich abgelehnt habe, weil ich noch an einer bescheuerten Bandprobe war. Die zwei anderen sind grundlos gestorben. Wegen ein paar Whiskys und sonstigem Zeugs, das er sich literweise reingeschüttet hat."

Da werde ich auf einmal hellhörig. Die Geschichte kommt mir grausam bekannt vor. Ein betrunkener Truckfahrer. Zwei unschuldige Opfer, die zur falschen Zeit am falschen Ort sind. Der Unfall...

Ohne zu überlegen, unterbreche ich Julian und stehe ebenfalls auf. „Wann war das. Der Unfall, meine ich. An welchem Datum?", bringe ich nur mit Mühe heraus. Mein Körper und meine Stimme zittern gleichermaßen.

Trotz Aarons tadelndem Blick setzte ich mich nicht. Pia ergreift meine Hand, doch ich schüttle sie grob ab.

Julian sieht mich verwirrt an. „Vor ungefähr drei Monaten, wieso?", stammelt er und zuckt zusammen, als ich sein Hemd packe und lautstark nach den Namen der anderen Opfer verlange.

„Ich weiß es nicht genau. Einer hieß glaube ich Roth. Oder Mayer", meint er mit schlechtem Gewissen in der Stimme.

Auch Aaron geht jetzt ein Licht auf. Denn er quetscht sich mit Mühe zwischen uns und weist Pia an, mich nach Hause zu bringen. Er löst die Gruppensitzung auf, was die anderen Selbsthilfeleute nicht sehr gut auffassen. Sie alle haben sich sorgfältig darauf vorbereitet, heute über ihre Probleme zu sprechen.

Ich nehme das alles nur am Rande auf. Das kann doch nicht wahr sein. Das wäre so, als würde mir das Schicksal ins Gesicht spucken. Ein wirklich, wirklich, wirklich schlechter Scherz.

Der Vater dieses netten Typen kann doch nicht ernsthaft für den Tod meiner Lieben verantwortlich sein. Aaron hätte uns nicht in die gleiche Selbsthilfegruppe einteilen dürfen.

Mein Sichtfeld verschwimmt und ich lasse mich kraftlos von Pia und einem anderen Selbsthilfetypen rausbringen. Pia verfrachtet mich in ihren Wagen, doch das alles ist mir so unvorstellbar egal.

In meinem Inneren kann ich mir nur vorstellen, wie ich mich irgendwo verkrieche, und nie mehr hervor komme. Ich bin so geschockt, dass ich es nicht einmal über mich bringe, zu weinen. Ich war daran, alles zu verarbeiten, auf einem guten Weg, mit der Vergangenheit abzuschließen.

Und dann kommt dieser Typ und konfrontiert mich aufs Neue mit dem Schatten der Vergangenheit. Mein Kopf sinkt auf das Leder des Autositzes. Erschöpft schließe ich die Augenlider und konzentriere mich auf Pias zusammenhangloses Gebrabbel, mit dem sie versucht, mich abzulenken.

Und tatsächlich, es funktioniert. Mein Verstand schaltet sich aus und ich muss nicht mehr daran denken, dass ich mit dem Jungen, dessen Vater meine Freunde umgebracht hat, im gleichen Raum gesessen habe.

Die Zeit danachWo Geschichten leben. Entdecke jetzt