Am Gartentor bleibe ich unschlüssig stehen.
Nick lächelt und ergreift meine Hand. Er zieht mich durch den Vorgarten, herauf auf die Veranda und zur der Bank, die direkt neben der Haustür steht.
Ich ringe nach Atem. Wenn ich ihn ansehen werde, wird er aussehen wie sein Bruder.
Ich spüre, dass Nick sachte meine Hand drückt.
Ich schaue ihm in die whiskeybraunen, ewig lachenden Augen.
„Okay?", fragt er. Er lächelt aufmunternd.
Ich schlucke leer und nicke.
Ich weiß, dass, wenn ich jetzt an dieser Stelle einen Rückzieher machen würde, es viel schwieriger würde, mich noch einmal zu überwinden.
Nick steht auf. Er verschwindet im Haus. Einige Minuten vergehen. Ich fixiere den Teich im Vorgarten mit meinem Blick und warte still und ruhig.
In diesem Augenblick kann ich mich nicht entscheiden, wie ich mich fühle. Eine geballte Masse an Empfindungen droht mich zu überwältigen.
Einerseits Glück. Ich habe Lars vermisst. Also freue ich mich, ihn wieder zu sehen. Ich wollte ihm nach dem Unfall beistehen. Ich habe es nicht getan, weil ich so sehr mit mir selbst beschäftigt war. Also empfinde ich auch Scham. Fast schon Selbsthass. Eine Ladung Nervosität. Und Angst.
Unpassender bilden sich Tränen in meinen Augenwinkeln, die ich schroff wegwische. Ich bin nicht hier, um zu weinen. Ich bin hier, um abzuschließen.
„Lia."
Ich fahre herum.
Geschockt reiße ich die Augen auf.
Er sieht nicht nur aus wie Jan; er ist sein Ebenbild. Er ist gewachsen, hat einige Bartstoppeln bekommen.
Ich räuspere mich. „Hey, du."
Er lächelt leicht und setzt sich neben mich. Wir umarmen uns unbeholfen und ich blinzle das Brennen in meinen Augen weg.
„Wie geht es dir?", erkundige ich mich und boxe ihn leicht gegen den Arm.
Lars verzieht das Gesicht und hebt den Blick hoch zum Himmel.
„Nicht zu klagen.", antwortet er.
Ich kann nicht anders. Ich muss ihn ganz genau mustern. Diese Ähnlichkeit... Unfassbar.
Ich ertappe mich dabei, wie ich eine Hand ausstrecke, um ihm durchs Haar zu fahren, wie ich es früher bei Jan getan habe.
Lars wendet sich mir zu.
„Du siehst anders aus. Verändert.", stellt er mit ruhiger Stimme fest, „Deine Augen sind nicht mehr so... leuchtend und deine Körperhaltung wirkt... Ich weiß nicht...? In dich gekehrt?"
Ich sehe ihm direkt in die Augen. Und da laufen sie doch über, die mit Mühe zurückgehaltenen Tränen.
„Entschuldige bitte", murmle ich und fahre mir mit dem Ärmel meines Pullis über das Gesicht.
„Schon okay. Es ist besser, wenn man weint, als wenn man es zurückhält.", erklärt er und fischt ein Taschentuch aus seiner Hosentasche. Er reicht es mir.
„Mein Bruder hat dich wirklich geliebt.", sagt er. Er lächelt mit glitzernden Augen. „Du hast uns beiden sehr geholfen als das mit unserer Mutter passiert ist. Du warst überhaupt immer da, wenn er dich brauchte. Ich habe dich wirklich vermisst an der Beerdigung, weißt du?"
Ich nicke. Lars war der Mensch, der Jan am nächsten stand. Sich mit ihm über Jan zu unterhalten fällt mir leichter, als bei Dr. Borckhart, meiner Mutter, oder Pia und der Selbsthilfegruppe.
Eigentlich habe ich mich praktisch noch nie über ihn geäußert. Wer er eigentlich war, was er mir bedeutete.
„Du warst ihm das Liebste auf der Welt.", entgegne ich und lächle, „Jan hätte alles für dich getan."
Lars legt den Arm um mich und zieht mich an seine Seite.
„Danke, dass du hier bist.", sagt er, „Ich weiß, dass du dir Vorwürfe machst, weil du dich nie gemeldet hast, aber ich glaube, es ist gut so, dass wir uns erst jetzt sehen. Die Trauer ist zwar noch immer da, aber schwächer, sodass wir uns gemeinsam an das Gute erinnern können, was wir mit ihm erlebt haben, und nicht bloß den tragischen Unfall vor Augen haben müssen, verstehst du?"
Ich verstehe absolut.
Ich nicke und wir sehen beide zum Teich hinüber und schweigen.
Ich habe mich geirrt, denke ich.
Ich bin nicht hier, um abzuschließen. Ich bin hier, um mich zu erinnern.
Ich bin auch nicht hier, um zu verarbeiten. Ich bin hier, um zu akzeptieren.
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Die Zeit danach
Teen FictionLiebe. Glück. Freude. Trauer. Leidenschaft. Melancholie. Verlassenheit. Hoffnung.... Jedes dieser Gefühle hat es in diese Geschichte geschafft. Zu viel will ich eigentlich nicht verraten. Lest sie selbst und bildet euch ein eigenes Urteil. ******* D...