Danach 45

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Liam sitzt am Küchentisch, als ich an diesem Morgen in die Küche komme um mir mein übliches Frühstück, ein Glas kalte Milch, zuzubereiten.

„Morgen", grüßen wir gleichzeitig.

Ich nehme ihm gegenüber Platz und löse noch einige Hausaufgaben, wie ich es jeden Morgen vor der Schule mache. Drückendes, kaum auszuhaltendes Schweigen.

Letztlich halte ich es nicht mehr aus und lege die Matheaufgaben beiseite.

„Ich frage mich schon lange, wieso du mich überhaupt gefunden hast.", meine ich rundheraus.

Liam sieht überrascht von seiner Zeitung auf. Er faltet sie ordentlich, bevor er antwortet.

„Du erinnerst dich an das Gedankenexperiment, welches du mit dem Psychiater, drei Tage nach dem Unfall, hattest?"

Ich erinnere mich, als wäre es gerade eben gewesen.

„Wie wäre es mit einem Versuch. Nennen wir es Gedankenexperiment."

Dr. Borckhart hebt seine buschigen Brauen und rückt seine randlose Brille zurecht. Er ist alt. Mindestens sechzig. Sein schütteres, schneeweises Haar ist nur noch teilweise vorhanden und er trägt Tweed.

Gleichgültig zucke ich mit den Schultern und sehe dabei meine Mam und Liam an, die zu meiner Unterstützung gekommen sind.

Dr. Borckhart zückt einen Notizblock und einen Kugelschreiber.

„Sehr schön. Also... Wo wären Sie jetzt am liebsten? Beschreiben Sie zum Beispiel einen imaginären Ort, an dem es Ihnen gut geht, und Sie sich geborgen fühlen.", fordert er mich auf.

Ich schließe die Augen und konzentriere mich.

Meine Stimme klingt rau als ich spreche: „Okay. Ich stehe hoch oben auf einem Fels. Unten höre ich das Meer."

„Eine Klippe?", hilft mir Dr. Borckhart nach.

Ich sehe ihn kurz an und schlage dann die Lider nieder. „Genau. Wenn man sich umdreht, ist da nur Stein. Es ist eine Art Höhle. Oder besser Einbuchtung. Die Sonne scheint herein und man kann Vögel hören. Vorne am Abgrund ist eine Metallabsperrung angebracht. Sie ist jedoch ziemlich niedrig, die Aussicht wird nicht eingeschränkt."

Meine Stimme bricht. Ich beschreibe die Klippe. Jans Klippe.

Dr. Borckhart mustert mich nachdenklich, zieht die Brille aus und knabbert verstreut an einem Henkel.

„Wie kommen Sie dort hin?", will er wissen.

Ich überlege keine Sekunde lang. „Durch einen, in den Stein gehauenen, Weg.", erwidere ich.

Er nickt, notiert sich etwas und meint dann: „Von nun an müssen Sie diesen Ort zu Ihrem mentalen Zufluchtsort machen. Immer, wenn die Trauer droht, Sie zu überwältigen, bewältigen Sie in Gedanken den steinigen Weg und sonnen sich am Ende auf dieser Klippe. Sie werden sehen, das hilft."

Ich nicke und er stellt mir weitere Fragen. Hauptsächlich darüber, was ich nun gedenke, zu tun.

Das Schlimme ist, dass ich es nicht weiß.

„Verstehe", flüstere ich. Er hat damals also wahrhaftig zugehört.

Er sieht mir ruhig in die Augen. „Es war der einzige Platz, der gepasst hat. Nur wenige kennen ihn. Ich habe eine Weile gebraucht, um ihn zu finden."

Ich warte einige Augenblicke.

Er wendet sich wieder seiner Zeitung zu.

„Danke.", sage ich. Ich habe es nie getan. Mich bedankt, meine ich. Und ich bin ihm für so vieles dankbar, sodass ein einziges Wort viel zu karg wirkt. Ich bin ihm dankbar dafür, dass er meine Mam glücklich macht. Und dass er mich nicht sterben lassen hat. Und dass er da ist. Ein Ruhepol, von dem man einfach sicher sein konnte, dass er immer da war, wenn man ihn brauchte.

Er hebt den Blick und nickt.

Ich stehe auf und verlasse die Küche.

Ich bin erleichtert, wie schon lange nicht mehr.

Die Zeit danachWo Geschichten leben. Entdecke jetzt