Davor 48

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Lars sitzt vor dem Zimmer und massiert seine Schläfen, als wir eintreffen. Jan legt ihm die Hand auf die Schulter und setzt sich neben ihn.

„Was hat der Arzt gesagt?", will er wissen. Ich nehme auf der anderen Seite Lars' Platz und streichle beruhigend seinen Rücken.

Seine Mutter hatte sich eine Überdosis reingezogen. Nach der Entlassung aus der Entzugsklinik hat sie sogleich einen Dealer aufgesucht. Das hat mir Jan vorher erklärt.

Lars schluchzt gequält auf.

„Sie ist tot, Mann. Da gibt es nicht viel zu sagen", stammelt er mit zitternder Stimme.

Jan lässt sich zurücksinken. Er lehnt den Kopf an die Wand, schließt die Augen und atmet tief durch.

In dem Moment kommt Nicks Vater um die Ecke und sieht uns hier sitzen. Lars springt auf und lässt sich von ihm umarmen.

Ich rutsche auf Lars' Platz und berühre Jan vorsichtig am Arm.

Die ganze Situation kommt mir surreal vor. Unwirklich. Noch vor einer Viertelstunde habe ich mir noch Sorgen über etwas so Belangloses wie Binomische Formeln gemacht.

Ich habe keinen blassen Schimmer, wie ich mich verhalten soll. Ich kannte seine Mutter nicht, weshalb ich nicht wirklich traurig über ihren Tod sein kann. Trotzdem zerreißt es mir schier das Herz bei dem Gedanken an das Leid, das Jan in diesem Augenblick widerfährt.

Außerdem wird mir bei der Vorstellung übel, dass meine Mam auch irgendwann einmal nicht mehr sein könnte.

„Ich hasse sie.", verkündet Jan durch zusammengebissene Zähne. Er schlägt sich die Hände vors Gesicht. „Ich hasse diese selbstsüchtige, asoziale Frau, die sich meine Mutter nennt. Man sollte meinen, dass sie sich nach einem geglückten Entzug bei ihrer Familie meldet, aber nein, was tut sie stattdessen? Sie kokst sich das Gehirn weg, dieser verdammte Junkie."

Ich bin entsetzt über diese harten Worte, aber ich weiß, dass er sich in Wirklichkeit nur dahinter verstecken will.

Sie war seine Mutter. Und er hat gerade eben erfahren, dass sie gestorben ist.

Ich gehe vor seinem Stuhl in die Hocke und stütze mich mit den Unterarmen auf seinen Knien ab.

„Hey", flüstere ich und ziehe seine Hände weg von seinem Gesicht, „Ich bin da."

Er öffnet die Augen und sieht mich an.

„Lia- Meine Mutter ist tot.", meint er verzweifelt. Ich nicke.

„Ja." Nur dieses eine Wort. Ich weiß, dass er eine Bestätigung braucht. Dass es ihm mehr helfen wird, als jede Mitleidsbekundung der Welt.

Er nickt. Und dann schluchzt er auf. Und weint. Ich habe ihn noch nie weinen gesehen. Ich schlinge die Arme um seinen Hals und lege den Kopf auf seinen Scheitel.

„Schhh, ist ja gut. Ich bin da. Ich werde immer da sein. Das weißt du, oder? Ich werde immer da sein, wenn du mich brauchst."

Ich spüre, dass er nickt.

In dieser Stellung bleiben wir lange. Ich achte nicht auf das Krankenhauspersonal, oder die Besucher, die an uns vorbei gehen. Ich denke nichts, nehme keinen der fremden Blicke wahr. Ich drücke ihn bloß an mich, streiche ihm durchs Haar und murmle beruhigende Laute.

Die Zeit danachWo Geschichten leben. Entdecke jetzt